Ewald gab Lena etwas Zeit, sich die Zeilen durchzulesen.
NI: »Alles abgewickelt?«
V. Aziz: »Natürlich. Danke! Am 17. Januar dann …«
NI (unterbricht ihn): »Nicht am Telefon!«
V. Aziz: »Alles klar.«
NI: »Ich melde mich.«
V. Aziz: »Inshallah.«
NI: »Inshallah.«
»›NI‹ bedeutet übrigens ›not identified‹«, erklärte die Dame mit dem Pagenschnitt. »Aber wir glauben zu wissen, wer hier mit Aziz gesprochen hat. Ein gut vernetzter arabischer Finanzberater namens Issam bin Hisham Al-Tayer, auch genannt ›die Fliege‹. Er berät die halbe arabische Welt in Finanzdingen, deswegen wahrscheinlich dieser Spitzname. Er geht unter anderem beim saudischen König aus und ein, hat aber auch gute Kontakte nach Israel und in den Westen. Die CIA vermutet, dass er seine Kontakte nicht nur in Finanzangelegenheiten nutzt. Beweise dafür gibt es aber nicht. Vielleicht ist er den Amerikanern auch aus anderen Gründen ein Dorn im Auge, das kann man leider nie so genau wissen. Aziz und ›die Fliege‹ kennen sich über ihre Kinder. Eine Tochter von Vahid Aziz ist mit dem dritten Sohn von Issam liiert. Sie haben sich in Berlin kennengelernt. Issams Sohn studiert hier Betriebswirtschaftslehre. Er …«
»Ist ja gut«, fuhr Ewald seiner Kollegin ins Wort. »So weit müssen wir für Frau Bondroit jetzt wirklich nicht ausholen. ›Die Fliege‹ ist außerdem gerade nicht unser Thema. Dass wir vor dem Anschlag noch an die Hintermänner kommen, ist nämlich leider nahezu ausgeschlossen. Bis zum 17. Januar sind es schließlich keine zwei Wochen mehr. Wir sollten uns daher primär auf die Vereitelung des Anschlags konzentrieren. Bislang haben wir dazu nur sehr wenige Informationen. Der Clan hält sich seit ein paar Wochen bedeckt wie nie, kein Fehltritt, keine Auffälligkeit, alles brave Buben, wie sie im Buche stehen. Es ist zum Verrücktwerden!« Er zeigte auf den Bildschirm. »17. Januar. An dem Tag findet ein großer Journalistenkongress statt. Wir nehmen an, dass sie deshalb diesen Tag gewählt haben. Der Clan, aber vor allem auch die saudische Krone haben hier noch Rechnungen offen – Sie wissen schon, schlechte Presse, angeblich Verleugnung und Propaganda, das Übliche. Unsere Aufgabe ist es, den Anschlag zu verhindern. Wir konzentrieren uns daher auf den Aziz-Clan.« Er sah mit süffisantem Blick zu seiner Kollegin. »Und um ›die Fliege‹ sollen sich mal schön die braun gebrannten Kollegen vom Auslandsdienst kümmern. Was die für Budgets …«
»Moment«, bremste Lena Ewald, denn die für sie wichtigste Frage hatte er immer noch nicht beantwortet. »Und weswegen bin ich jetzt hier? Ich bin Biologin, Verhaltensforscherin. Ich kenne mich weder mit Clans noch im Drogenmilieu oder mit Anschlägen aus.«
Ewald nahm einen Kugelschreiber vom Tisch und zeigte damit auf sie. »Sie erinnern sich noch an unser Telefonat an Weihnachten?«
»Natürlich. Ich habe mich für Ihre nette Karte bedankt.«
»Genau. Und Sie erzählten mir von ihrem neuesten Forschungsprojekt. Sie haben ja inzwischen von Ameisen auf Wölfe umgesattelt, genauer gesagt auf die Beobachtung von Wolfsrudeln. Bei den Ameisen ging es ihnen darum, das System Staat besser zu verstehen. Dieses Mal geht es ihnen um Familienstrukturen, also auch wieder ein System, nur ein sehr viel kleineres, wenn ich das mal so salopp sagen darf. Ihrer Ansicht nach hat sich diesbezüglich in der Forschung in den letzten Jahren wenig getan. Sie wollen unter anderem besser verstehen, wie Wölfe miteinander kommunizieren und was sie zusammenhält. Vor allem das Thema Rituale hat es Ihnen angetan. So weit noch alles richtig?«
»Ja, das stimmt.« Das Gespräch mit Ewald hatte ihr viel Freude bereitet, da er an ihren Ansichten aufrichtig interessiert schien. Sie wandte sich an Ewalds Mitarbeiter. »Ich bin Verhaltensforscherin und ein großer Freund der Ethologie, also der vergleichenden Verhaltensforschung. Auch wenn sich mein Projekt auf Wölfe beschränkt, erhoffe ich mir von diesen Beobachtungen neue Antworten auf die Frage, was den Gruppenverband einer Familie ausmacht, wie Herr Ewald schon sagte, was sie zusammenhält oder auch auseinandertreibt. Familienstrukturen sind ein biologisches Phänomen gegenüber anderen Verbänden wie Herden oder Staaten. Das Zusammenleben in einer Familie hat viele evolutive Vorteile. Letztlich geht es mir um klassische Grundlagenforschung. Da ich das Familiensystem an sich analysiere, könnten bestimmte Rückschlüsse durchaus auch für uns Menschen interessant sein.«
»Ganz genau«, sagte Ewald. »Und daran wollte ich anknüpfen. Sie sagten in unserem Gespräch, dass wir Menschen zwar eine gesetzlich normierte und auch kulturell tradierte Vorstellung davon haben, wie eine Familie sein sollte. Doch die bildet schon lange nicht mehr die Realität ab, wie beispielsweise die hohen Scheidungsraten, Patchworkfamilien und polyamoren Beziehungen zeigen. Vielleicht hat sie das auch noch nie.«
»Stimmt«, gab ihm Lena recht. »Aber leider verstehe ich immer noch nicht, was Sie von mir wollen?«
Ewald atmete tief durch. »Ganz konkret: Wie infiltriert man am schnellsten eine Wolfsfamilie?«
Lena sah Ewald überrascht an. »Wie bitte?«
Ewald nickte nur, anscheinend um ihr zu verstehen zu geben, dass sie ihn richtig verstanden hatte.
»Aber Sie stellen mir jetzt hoffentlich nicht diese Frage, weil Sie meinen, dass Ihnen die Antwort bei der Infiltrierung des Clans behilflich sein könnte! Denn dann haben sie etwas an meiner Forschung grundsätzlich nicht verstanden. Sie sollten lieber Clanspezialisten oder Psychologen befragen.«
»Das habe ich bereits.«
»Und?«
»Natürlich ohne Erfolg. Unsere sogenannten Clanspezialisten wärmen immer nur denselben Brei auf, der uns in diesem Fall gar nichts bringt. Und was bitte soll man von den Ideen einer Berufsgruppe erwarten, deren Theorien sich alle paar Jahre als falsch herausstellen und die dann eine Therapie für die Therapie entwickeln?« Ewald lachte laut, stoppte dann allerdings abrupt, nachdem keiner mit ihm mitlachte. Er sah sie durchdringend an. »Frau Bondroit, ganz ehrlich: Wir sind gerade am Ende mit unserem Latein. Die bewährten Methoden, die wir ansonsten anwenden, sei es bei den Kriminalern oder beim Verfassungsschutz, bringen uns in dieser Situation und in der Kürze der Zeit nicht weiter. Wir haben alle uns zur Verfügung stehenden Mittel ausgeschöpft. Wir müssen neue Wege finden, vor allem weil es schnell gehen muss. Wir müssen herausfinden, was der Clan vorhat. Und da musste ich an unser Gespräch an Weihnachten denken. Clan. Rudel. Sie wissen schon. Da gibt es doch bestimmt Parallelen. Auch das Verhalten der Ameisen damals hat uns bei der Aufdeckung des Skandals geholfen. Ich brauche neue Ideen, Impulse, etwas, an das wir noch nicht gedacht haben. Denn eines ist klar: Wenn wir so weitermachen wie bisher, werden viele unschuldige Menschen sterben.«
Als Lena Ewald das erste Mal begegnet war, hatte sie ihn gehasst. Seine Passion, Mitmenschen ins Messer laufen zu lassen, um Dampf abzulassen, überhaupt die Art, wie er mit anderen Menschen umging, vor allem mit Frauen. Das alles hatte ihr nicht gefallen. Und wenn man nun sah, wie er mit seinen Mitarbeitern umging und sich in den Mittelpunkt drängte oder wie er Lenas Einwände einfach wegwischte,