Homo Lupus. Thomas Kiehl. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Kiehl
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783710951121
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ging zum Wohnzimmerfenster und spickte durch die Scheiben. Es dauerte einen Augenblick, bis sie ihn in seinem Lieblingssessel entdeckte – einem aus ihrer Sicht hässlichen amerikanischen Giganten, den man mit einem seitlich angebrachten Hebel in eine Art Liege verwandeln konnte. Der Fernseher lief, sonst war aber niemand zu sehen. Dafür fiel Lena etwas anderes auf; die Schauspieler im Fernseher, obwohl allesamt keine Hollywoodstars, waren ihr wohlbekannt.

      Dieser Schuft!

      Sie ging zur Haustür und öffnete sie leise. Dann riss sie die Tür zum Wohnzimmer auf.

      »Verräter!«

      Michael zuckte erschrocken zusammen. »Lena!« Er hielt sich die Hand ans Herz. »Hast du mich erschreckt!«

      »Zu Recht«, schimpfte Lena. »Schaust einfach unsere Serie weiter. Ohne mich!«

      Es war in der letzten Zeit zu ihrem abendlichen Ritual geworden. Sie kümmerte sich um das Abendbrot, brachte Jean ins Bett und las ihm noch eine kurze Geschichte vor, dann schlüpften sie und Michael in ihre Pyjamas, holten eine Tüte Chips oder eine Tafel Schokolade aus dem Schrank und setzten sich vor den Fernseher. Diese neuen Serien waren wirklich schlimm, so gut waren manche von ihnen. Am liebsten hätten sie oft zwei Folgen hintereinander angesehen, doch das sprach gegen ihre zwei Regeln: nur eine Folge pro Abend. Und man wartete auf den anderen.

      »Sorry!« Michael grinste verlegen. Er kam auf sie zu, küsste und drückte sie kurz. »Wir schauen sie noch mal gemeinsam. Von vorn. Okay?«

      »Aber wehe du spoilerst!«

      »Keine Sorge.«

      Sie ließ sich erschöpft auf die große englische Ledercouch fallen, einem wirklichen Schmuckstück im Gegensatz zu Michaels Sessel. Kein Wunder, dass sie es mit in die »Ehe« gebracht hatte. Sie schätzte Michael für vieles, aber nicht für seinen Möbelgeschmack.

      »Und?«, fragte er. »Was wollte Ewald?«

      Lena erzählte ihm von dem wahrscheinlich bevorstehenden Anschlag, Ewalds Problemen bei der Unterwanderung des Clans und dass sie ihm leider auch nicht hatte weiterhelfen können. Und sie berichtete davon, wie das Treffen geendet hatte.

      Für einen Moment war es im Raum totenstill gewesen. Lena hatte zu dem »Sunnyboy« gesehen, der an seinen Fingernägeln fummelte, während er auf die Reaktion von Ewald wartete. Die »Stasi-Statistin« hatte sich mal wieder etwas notiert.

      »Wie, es gibt in Wolfsrudeln kein Omega-Tier?« Fallender reagierte vor Ewald. Seine Pupillen hatten sich geweitet. Und auch wenn er seine Stimme unter Kontrolle hatte, merkte Lena, dass er sich innerlich darauf vorbereitete, auf sie loszuspringen.

      »So ist es.«

      Fallender sah zu Ewald, dann lachte er hohl. »Sie wollen also die Ergebnisse jahrzehntelanger Wolfsforschung infrage stellen?« Jetzt wurde sein Ton schon schärfer.

      »In der Tat.«

      Wieder lachte Fallender kurz auf. »Wo haben Sie denn die ausgegraben?«, fragte er Ewald gespielt brüskiert.

      Lena fuhr ein kalter Schauer über den Rücken. Das konnte sie am wenigsten ausstehen, Menschen die über sie redeten, als wäre sie gar nicht anwesend. Wer meinte dieser Typ eigentlich, wer er war? Wollte ausgerechnet er ihr erzählen, wie Wolfsfamilien funktionierten, nur weil er ein populärwissenschaftliches Buch über sie gelesen hatte?

      Früher wäre sie spätestens jetzt ausgerastet. Noch als Studentin wäre sie aufgestanden, hätte nach etwas gesucht, mit dem man Fallender bewerfen könnte, und hätte genau das dann auch getan, während sie ihn übelst beschimpft hätte. Doch mit der Zeit hatte sie gelernt, sich mit unterschiedlichen Methoden halbwegs im Zaum zu halten. Eine davon war, sich Fallender als kleinen Jungen vorzustellen, der ihr so dermaßen unterlegen war, dass es einfach nicht richtig erschien, ihn anzufluchen. Genau das tat sie jetzt.

      »Frau Bondroit.« Ewald hatte sich ihr zugewendet. »Das, was Sie da behaupten – ist das bewiesen oder nur ihre persönliche Meinung?«

      Was für eine Frage? Was war denn in den Naturwissenschaften schon bewiesen? Selbst große Biologen und Nobelpreisträger hatte man immer wieder widerlegt. Aber natürlich war es der aktuelle Stand der Forschung. Mit etwas anderem würde sie – im Gegensatz zu diesem Quacksalber – nicht hausieren gehen.

      »Es ist das Ergebnis meiner neuesten Beobachtungen, aber nicht nur von mir, sondern auch von vielen Kollegen. Es gibt Veröffentlichungen dazu. Früher war man da in der Tat anderer Ansicht.« Lena ärgerte sich, dass sie es für nötig empfunden hatte, auf die Meinungen anderer zu verweisen.

      Sie konzentrierte sich wieder auf Fallender und musste feststellen, dass sie sich ihn erschreckend gut als Kind vorstellen konnte. Sie sah es förmlich vor sich, wie er auf dem Schulhof von seinen Mitschülern verprügelt wurde.

      »Ha!« Fallender lachte erneut. »Ihre Beobachtungen!« Er sagte das, als würden ihre Beobachtungen nun wirklich keine Rolle spielen. »Für welche Universität oder Forschungseinrichtung arbeiten Sie noch gleich?«

      »Gar keine.«

      Alle im Raum starrten sie an. Zumindest kam es Lena so vor. Sie beschlich sofort ein ungutes Gefühl. Eigentlich war es ihr egal, dass sie gerade ihr eigenes Forschungsprojekt betrieb und selbstständig war. Für die Familie und Jean war es zumindest das Beste. Jetzt wäre es ihr anders lieber gewesen.

      »Hatten Sie nicht dieses Angebot vom Max-Planck-Institut, nachdem Sie Ihren Lehrauftrag an der Universität in Berlin gekündigt hatten?«, fragte Ewald nach.

      »Ja«, sagte Lena. »Aber das habe ich abgelehnt. Denn dafür hätten wir nach Bayern ziehen müssen.«

      Sie musste schlucken. Sie wurde von zwei Naturschutzverbänden bei ihrer Wolfsforschung finanziell unterstützt, die ihre Arbeit sehr schätzten. Doch wenn sie auf Menschen wie Fallender traf, dann merkte sie, dass das Einzige, was auf dieser Welt zählte, die Schulterklappen waren, die man trug. Arbeitete man für eine prominente Universität, war jeder Schwachsinn angesehene Forschung. Arbeitete man für sich selbst, wurde man sofort als Hobbybiologe abgestempelt.

      Sie atmete tief durch. »Die bisherige Annahme einer strikten Hackordnung in Wolfsrudeln beruhte auf der Beobachtung von gefangenen Wölfen. In der Freiheit hingegen …«

      »Und so weiter und so fort«, unterbrach sie Fallender.

      »Herr Ewald!« Lena war kurz davor, doch noch zu explodieren. Sie sah ihn Hilfe suchend an. Er wusste doch, dass sie eine hervorragende Biologin war. Warum sonst hatte er um ihre Hilfe gebeten?

      »Vielleicht erklären Sie einfach noch mal weiter Ihren Ansatz«, bat Ewald Fallender, anstatt sie zu unterstützen.

      »Sehr gern.« Fallender warf Lena einen vernichtenden Blick zu. »Denn ganz ehrlich, unabhängig davon, was diese Biologin für ›Beobachtungen‹«, die Gänsefüßchen waren mehr als deutlich herauszuhören, »gemacht hat – letztlich sind mir Wölfe schnuppe. Sie bieten eine schöne Metapher, wenn ich in meinen Seminaren etwas erklären möchte. Das, was ich jedoch ganz sicher weiß – und was für Ihren Fall entscheidend bleibt: Beim Menschen gibt es das Omega-Tier. Ich treffe sie täglich in meinen Seminaren, ausgegrenzte Individuen, auf deren Kosten sich lustig gemacht wird, Männer, bei denen die Frauen vom Tisch aufstehen, wenn sie sich dazusetzen, Frauen, über deren fette Hintern noch während ihres Vortrags hinter vorgehaltener Hand gelästert wird und die sofort unterbrochen werden, wenn sie auch mal etwas sagen wollen …«

      Lena schloss die Augen, während sie weiter zuhörte. Ja, man konnte es sich einfach machen. Man konnte alles über einen Kamm scheren, Äpfel mit Birnen vergleichen und mit einfachen Interpretationen versuchen, die Welt zu erklären. Da riss man sich als Forscher ein Bein aus, stellte Thesen auf, um sie jahrelang in akribischer Arbeit zu falsifizieren, bis sie standfest untermauert waren. Doch wozu? Damit am Ende Scharlatane wie Fallender mit ihren einfachen Lösungen die Entscheidungsträger berieten? Wie wütend sie das machte.

      Wieder spürte sie, wie es in ihr brodelte, wie sie am liebsten aufgesprungen wäre, um Fallender