Homo Lupus. Thomas Kiehl. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Kiehl
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783710951121
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und die daraus resultierende Offenheit gegenüber neuen Ansätzen und Strategien. Damit machte er sich in seinem Umfeld sicher nicht nur Freunde, eher das Gegenteil. Manchmal musste man aber wahrscheinlich auf unkonventionelle Ermittlungsmethoden zurückgreifen, wenn man etwas erreichen wollte.

      »Sie erklärten mir am Telefon«, setzte er nach, »dass der Grund dafür, dass gerade der Hund weltweit zum ›besten Freund‹ des Menschen wurde, in der dem Menschen ähnlichen Familienstruktur seiner Vorfahren zu suchen ist. Der Umgang mit Familienmitgliedern gleicht sich zum Teil sehr – Ihre Worte«, führte Ewald weiter aus.

      »Ich sagte, möglicherweise«, korrigierte Lena. Sie war keine Freundin von absoluten Behauptungen. Es gab viel zu viele Beispiele dafür, dass selbst die sichersten Annahmen widerlegt wurden. Die einzige wirkliche Wahrheit war die, dass meistens nicht nur die Behauptung, sondern auch das Gegenteil zutraf.

      »Egal.« Ewald machte eine abwehrende Geste. »Erzählen Sie uns von den Wölfen. Vielleicht kommen uns dann neue Ideen. Wie gelingt es zum Beispiel Wölfen, einem fremden Rudel beizutreten? Sie verstehen, was ich meine?«

      »Natürlich verstehe ich«, sagte Lena. »Aber ich muss Sie enttäuschen. Es gelingt ihnen gar nicht.«

      »Wie?« Ewald wirkte zugleich überrascht und verärgert.

      Aus dem Augenwinkel nahm Lena wahr, wie sich die Mitarbeiterin von Ewald eine Notiz machte. Der Surferboy hingegen schien mit etwas anderem beschäftigt, etwas unter dem Tisch. Wahrscheinlich seinem Handy. Dass das Ewald gar nicht störte, wunderte sie ein wenig.

      »Leider ist es so«, erklärte Lena. »Sie müssen wissen, ein Clan ist kein Rudel. Ein Wolfsrudel besteht in der Regel nur aus der Kernfamilie, also Mutter, Vater und ihren Kindern. Ich weiß, dass man lange Zeit davon ausging, dass Mitglieder größerer Wolfsrudel aus unterschiedlichen Familien stammen. Aber das ist falsch. Wölfe von anderen Rudeln werden im Regelfall nicht integriert. Ganz im Gegenteil. Andere Rudel und ihre Mitglieder stellen die Konkurrenz dar, die vertrieben, notfalls sogar vernichtet werden muss. Abgesehen vom Menschen, ist der Wolf dem Wolf der größte Feind.«

      »Und dieser Wolfsmann?«, warf er ein.

      Natürlich wusste Lena sofort, von wem Ewald sprach: Shaun Ellis – oder »der Wolfsmann«, wie er in vielen Reportagen medienwirksam genannt wurde. Sie kannte ihn nicht persönlich, aber hatte viel von und über ihn gelesen. Ellis hatte Wölfe lange beobachtet, sie gepflegt, Wolfswelpen »adoptiert« und angeblich sogar mit wilden Wölfen zusammengelebt. Auch wenn er und seine Methoden in der Forschung umstritten waren, wenn man es denn überhaupt als solche bezeichnen wollte, konnte man ihm nicht nachsagen, dass er nicht viel Zeit mit Wölfen verbracht hatte. Und glaubte man seinen Erzählungen, dann war es ihm tatsächlich gelungen, das Vertrauen einer wilden Wolfsfamilie zu gewinnen. Dennoch bezweifelte Lena, dass Ewald das Wissen dieses Mannes weiterbringen würde.

      »Und?«, fragte Ewald erwartungsvoll.

      »Mir scheint es mehr als fraglich, ob sich seine Erfahrungen reproduzieren oder verallgemeinern lassen.«

      »Einen Versuch ist es wert.«

      »Es wird Ihnen trotzdem nichts bringen.«

      »Warum?«

      »Weil man Beobachtungen aus der Tierwelt nicht einfach auf den Menschen, geschweige denn auf Clans übertragen kann. Aber vor allem weil Sie bis zu dem Anschlag nur noch elf Tage Zeit haben.«

      Ewald schlug mit der Faust auf den Tisch. »Wie lange hat er gebraucht?«

      »Monate. Die verwaisten Welpen, die er aufzog, vertrauten ihm als Mutter- und Vaterersatz natürlich schneller, aber das ist ein ganz anderer Fall.«

      Ewald legte seinen Kopf in den Nacken und starrte an die Decke. Er stieß genervt oder vielleicht auch nur frustriert Luft aus. »Gut. Verstanden. Wir haben ein Zeitproblem. Aber vergessen wir mal die Zeit. Wie hat er das Vertrauen gewonnen?«

      Lena hätte Ewald wirklich gern weitergeholfen. Doch das Vertrauen einer Wolfsfamilie zu gewinnen war eine schwierige Angelegenheit. »Ich rede jetzt nur über Wölfe.«

      »Ja, verstanden. Los!«

      »Es geht viel um denselben Geruch, dieselbe Art zu kommunizieren, dieselben Rituale und die Bereitschaft, eine bestimmte Rolle einzunehmen. Gerade gemeinsame Rituale halte ich für einen entscheidenden Treiber für Bindungsgefühle und damit auch für Vertrauen.«

      Ewald überlegte einen Moment. Dann schüttelte er den Kopf und sprang unvermittelt von seinem Stuhl auf. Als hätte er einen tonlosen Befehl erteilt, packten auch seine Mitarbeiter ihre Papiere zusammen. Der Surferboy zauberte eine selbst gedrehte Zigarette unter dem Tisch hervor, die er auf seine Unterlagen legte. Also doch kein Handy.

      Lena war über die überraschende Aufbruchstimmung ein wenig verwundert. »Nicht sonderlich hilfreich, was?«

      »Weiß nicht.« Er zeigte auf die Tür. »Ich denke noch mal drüber nach. Doch die Zeit drängt wirklich.« Er öffnete die Tür. »Und daher würde ich Sie gerne mit jemandem bekannt machen.«

      8

      Lena folgte Ewald und seinen Mitarbeitern durch die kargen, leeren Flure des großen Gebäudes. Man musste schon ein spezieller Typ Mensch sein, um in einer solchen Umgebung arbeiten zu können, ohne depressiv zu werden. Lena hätte es hier keine Woche ausgehalten. Vielleicht sorgte die ständige Beschäftigung mit dem gewaltsamen Tod dafür, dass man das Fehlen von Farbe und Pflanzen als nicht mehr bedrückend wahrnahm. Vor einer Tür am Ende eines Gangs hielten sie an. Ewald öffnete sie und bat Lena einzutreten.

      Das Zimmer war mit einem grauen Zweisitzer, drei dazu passenden modernen Sesseln und einem niedrigen Glastisch eingerichtet. An der Seitenwand befand sich ein kleines Fenster. Auf dem Sofa saß ein Mann und las Zeitung. Er war wahrscheinlich der Urheber des süßlichen Aftershavegeruchs, der Lena unmittelbar in die Nase gestoßen war. Der Mann wartete, bis Lena, Ewald und seine zwei Mitarbeiter den Raum betreten hatten. Erst dann erhob er sich.

      »Darf ich vorstellen?« Ewald zeigte auf den Mann. Lena schüttelte die ihr dargebotene Hand. »Herr Dr. Fallender. Managementberater.« Und an ihn gewandt: »Das hier ist die geniale Biologin, von der ich Ihnen erzählt habe. Frau Dr. Bondroit.«

      Fallender war ein hochgewachsener Mann Mitte vierzig, den man mit seinem dichten, braunen Haar und den markanten Gesichtszügen wohl als durchaus gut aussehend bezeichnen musste. Er trug einen schwarzen Anzug, darunter einen schwarzen Rollkragenpullover. Sein markantes Gesicht wurde durch die lang gezogenen seitlichen Koteletten noch betont. Lena erkannte ihn sofort wieder. Sie hatte ihn erst kürzlich in einer Talkshow gesehen. Fallender war als Experte für das Thema Management-Coaching geladen gewesen und ihr als arroganter, selbstverliebter Mensch im Gedächtnis hängen geblieben. Er hatte waghalsige, unwissenschaftliche Thesen vertreten und Plattitüden kundgegeben, garniert mit ein paar plastischen Anekdoten, die für die nötigen Lacher sorgten. Ewald musste wahrlich verzweifelt sein, wenn er solche Wichtigtuer zurate zog.

      »Freut mich.« Fallender drückte ihre Hand auffallend fest, ein Verhalten, das Lena gerne bei Männern beobachtete, die von Anfang an klarzustellen versuchten, wer im Raum das Sagen hatte.

      Sie nickte nur, damit sie sich eine Freundlichkeitsfloskel sparen konnte.

      Fallender setzte sich zurück auf die Couch, woraufhin Ewald Lena aufforderte, in dem Sessel gegenüber Platz zu nehmen. Er öffnete das Fenster, bevor er sich selbst setzte. Wahrscheinlich störte ihn ebenfalls der penetrante Aftershavegeruch. Dann setzten sich auch seine Mitarbeiter.

      Und jetzt? Lena blickte zu Ewald. Warum sollte sie diesen Mann kennenlernen? Und warum der Raumwechsel?

      »Mit Herrn Dr. Fallender«, Ewald sah zu dem Managementberater, »hatten wir bereits eine kleinere Unterredung.« Fallender nickte, und Ewald sah zu Lena. »Und wie ich schon sagte: Es ist an der Zeit, anders zu denken. Innovative Methoden sind gefragt.« Er räusperte sich. »Ich habe daher auch Herrn Dr. Fallender in unser kleines – oder sagen wir lieber größeres – Problem eingeweiht.«