»Es dankt!«, johlte Saum und nahm direkt einen ordentlichen Schluck.
Sie grölten gemeinsam zu der Musik aus dem Radio.
»Achtung!«, brüllte Wittkowski durch das Auto. Trotz seines Zustands war er der Erste, der sie bemerkte. Die Frau torkelte halb auf der Straße, die an dieser Stelle keinen Bürgersteig hatte. Sie schien betrunken – oder einfach nur sehr alt.
Coppenfeld reagierte sofort. Er riss das Steuer herum. Durch sein abruptes Manöver geriet der Wagen allerdings ins Schleudern. Während er versuchte, den Wagen durch ein Gegenmanöver wieder unter Kontrolle zu bekommen, flog Saums Kreditkarte mit dem Kokain durch den Wagen. Dann gab es einen dumpfen Schlag. Coppenfeld brachte den Wagen zum Stehen. Alle sahen sie nach hinten. Die Frau lag reglos auf der Straße. Ihre Gliedmaßen wirkten seltsam verdreht.
»Fuck.« Coppenfeld schlug immer wieder mit beiden Händen aufs Steuer. »Fuck, fuck, fuck!«
Berger öffnete die Tür. Noch bevor er aussteigen konnte, hielt ihn Saum zurück.
»Bist du verrückt!«, fuhr er ihn an, ehe Berger auch nur einen Fuß auf die Straße setzen konnte. »Sofort wieder Tür zu!«
»Warum?«
»Weil wir keine Spuren hinterlassen werden.« Er wandte sich an Coppenfeld. »Fahr weiter!«
»Aber …«
»Nichts aber! Willst du in den Knast?«
Sie fuhren nicht mehr in das gebuchte Vorstadthotel, sondern in eine kleine unscheinbare Absteige am anderen Ende von London. Erst dort untersuchten sie den Wagen, der, abgesehen von einer Beule auf der Beifahrerseite und einem zerbrochenen Scheinwerfer, nicht sonderlich unter dem Unfall gelitten hatte. Während Berger, Wittkowski und Coppenfeld komplett unfähig waren, Entscheidungen zu treffen, war Saum zu Hochform aufgelaufen. Er hatte vorgegeben, welche Straßen sie nutzen sollten, und zeigte Coppenfeld, wo er den Wagen über Nacht am besten abstellte. Am nächsten Morgen hatte er schon vor dem Frühstück in Erfahrung gebracht, wo sich die nächste Waschanlage befand. Er übernahm jetzt das Steuer. Und er war es auch, der der Mietwagenfirma meldete, dass der Wagen gestohlen worden war. Wo er den Wagen am Ende verschwinden ließ, hatte er ihnen bis zum heutigen Tag verschwiegen.
Keiner hatte gewollt, was passiert war. Doch wegen dieses Vorfalls ihre komplette Zukunft aufs Spiel setzen? Außerdem waren sie sich einig, dass die Frau nicht unschuldig gewesen war. Was torkelte sie nachts am Straßenrand herum! So empfanden sie ihre Tat mit der Zeit durchaus entschuldbar, schließlich hätte ein Geständnis die Frau nicht mehr lebendig gemacht. Und wie jedes schlechte Erlebnis hatte auch dieses seine gute Seite: eine lebenslange, unzertrennliche Freundschaft.
7
Das Licht in dem fensterlosen Raum war stark gedimmt. Die Wände bestanden aus unverputztem Beton. An ihnen hingen vier riesige Monitore und dazu ein durchsichtiges belichtetes Whiteboard, auf das mit Neon-Markern ein Flussdiagramm aufgezeichnet war. In der Mitte des Zimmers stand ein langer Besprechungstisch, an dem zehn Personen Platz finden konnten, jedoch nur drei saßen: zwei Männer, eine Frau.
Der Mann, der in der Mitte saß, stand jetzt auf und ging langsam auf sie zu. Jetzt erst erkannte sie ihn wieder. Er war älter geworden, sah aus wie gute sechzig, obwohl Lena wusste, dass er jünger war. Seine vollschlanke Statur hatte sich nicht groß verändert sowie auch sein Haarschnitt, wenn man Haare mit der durchgehenden Länge von einem Zentimeter als solchen bezeichnen wollte. Nur waren sie jetzt grau.
»Lena Bondroit und die Sonne geht auf!«
Es wurde etwas heller. Jemand musste an dem Dimmer für die Deckenbeleuchtung gedreht haben.
»Herr Ewald.«
Er sah aus, als könnte er dringend etwas Schlaf gebrauchen. Sie hatte Ewald vor sechs Jahren im Rahmen von ziemlich brisanten Ermittlungen kennengelernt. Es ging um ein internationales Komplott, das bis in höchste politische Kreise reichte und das Ewald schließlich mit ihrer Hilfe aufdecken konnte. Und genau das, befürchtete sie, holte sie jetzt wieder ein. Aufgrund seines Ermittlungserfolges hatte man Ewald damals zum Präsidenten des Verfassungsschutzes befördert. Sie hatten nicht wirklich engen Kontakt gehalten, doch Ewald schickte ihr jedes Jahr zu Weihnachten eine Karte, für die sich Lena anschließend in einem Telefonat bedankte. Ein jährliches Ritual, das sich zwischen ihnen eingespielt hatte. Vor drei Jahren hatte sie von ihm erfahren, dass er aufgrund eines Patzers, so unbedeutend er auch gewesen sein mochte, hatte zurücktreten müssen. Seitdem war er für eine neue Abteilung zuständig, die sich mit Terrorakten im Inneren beschäftigte und in Berlin am Treptower Park angesiedelt war. Lenas Ansicht nach war diese »Degradierung«, wie es Ewald damals wutentbrannt bezeichnet hatte, zwar hierarchisch gesehen ein Rückschritt. Allein auf den Tätigkeitsbereich bezogen sah sie darin aber eine Entwicklung, die seinen Fähigkeiten viel gerechter wurde. Ewald war kein politisch, geschweige denn rhetorisch oder strategisch geschickter Mensch. Dafür hatte er ein Händchen dafür, in kniffligen Fällen mit unkonventionellen Ermittlungsmethoden Verbrechern das Handwerk zu legen.
»Was soll das alles? Geht es um die Geschichte von damals?« Noch immer hatte man Lena nicht darüber aufgeklärt, was der Verfassungsschutz von ihr wollte und warum man sie an einem Sonntag von zu Hause abgeholt und hierhergebracht hatte. Nur dass ein gewisser Herr Ewald sie umgehend in Berlin sprechen wolle, das hatte man ihr verraten.
Ewald lachte laut los. »Nicht Ihr Ernst?«
»Mein voller Ernst«, korrigierte Lena. »Und was gibt es da so blöd zu lachen?« Es ärgerte sie, dass Ewald ihre Bedenken nicht ernst nahm. Um was sollte es schließlich sonst gehen?
Ewald stellte sein Lachen ein. »Na ja. Das Ganze ist eine Ewigkeit her!« Er wandte sich an seine Kollegen. »Wie Sie wissen, kenne ich Frau Bondroit bereits aus einem früheren Fall.« Ewald sah zu ihr zurück. »Entschuldigung, Frau Bondroit.« Er mimte einen zerknirschten Gesichtsausdruck. Dass er wirkliches Mitleid empfand, nahm ihm Lena nicht ab, dazu kannte sie ihn zu gut. Die einzige Person, für die Ewald Mitleid empfinden konnte, war er selbst. »Für mich klingen Ihre Bedenken ein wenig paranoid. Aber wenn ich Sie erschreckt habe, dann tut mir das ausgesprochen leid.«
»Paranoid?«, fragte Lena ungläubig. Auch die Art, wie er das Wort »ausgesprochen« betont hatte, zeigte Lena, dass er ihre Angst nicht ernst nahm. »Da tauchen zwei bewaffnete Beamte vom Verfassungsschutz unangekündigt bei mir auf! Entschuldigen Sie, Herr Ewald! Für Sie mag das der Normalfall sein. Für mich nicht! Sie hätten mich persönlich abholen können oder zumindest anrufen und vorwarnen.«
»Ist ja gut!« Ewald hob beschwichtigend die Hände. »Ich habe verstanden. Es ist nur so: Für diesen Fall gilt die höchste Geheimhaltungsstufe. Was wir besprechen, bereden wir am liebsten in abhörsicheren Räumen wie diesem hier.«
Er zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor und bot Lena den Platz an. Dann zeigte er auf die Frau und den Mann, die am Ende des Tischs saßen. »Übrigens, nur der Vollständigkeit halber, zwei meiner Mitarbeiter. Ignorieren Sie sie einfach. Die sitzen nur hier, weil ich später keine Lust habe, den Wiederkäuer zu spielen.« Er lachte dreckig.
Lena nickte den beiden zu. Es handelte sich um einen Mann um die dreißig, der aussah, als würde er eigentlich lieber auf Bali am Strand mit einem Surfbrett in der Hand rumhängen als hier im halbdunklen Raum, und eine Frau um die fünfzig, die in ihrem grauen Hosenanzug, mit der Mireille-Mathieu-Frisur, den leicht herausstehenden Augen, die auf eine Schilddrüsenfehlfunktion hindeuteten, und dem blassen Teint sicherlich eine gute Chance gehabt hätte, als Klischee-Stasi-Mitarbeiterin fürs Kino gecastet zu werden. Beide nickten freundlich zurück. Dann setzte sie sich.
»Um was geht es denn?« Lena konnte sich beim besten Willen nicht erklären, was es Geheimes mit ihr zu besprechen gab, wenn es nicht um die Geschichte von damals ging.
»Die kurze oder lange Version?«
»Die kurze, wenn es geht«, bat Lena. »Wir haben Wochenende, es ist Sonntag. Mein Sohn Jean und ich haben heute Morgen Wölfe beobachtet. Wahrscheinlich erzählt er meinem Mann gerade von