Lebenskunst nach Leopardi. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Группа авторов
Издательство: Bookwire
Серия: Ginestra. Periodikum der Deutschen Leopardi-Gesellschaft
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783823302780
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sondern der Ausdauer und des Scharfsinns, der Verschlagenheit und der Neugier. Es ist dies todesmutige Experimentieren mit dem Explosivstoffe ‹Welt›, was die ‹Pensieri› so hinreißend macht. Sie sind ein Handorakel, eine Kunst der Weltklugheit für Rebellen.7

      Doch ungeachtet solcher aus dem ‹unverstellten› Lesen der Texte Leopardis gewonnenen Einsichten ist die Pessimismus-These als vermeintliches Kennwort für Leopardis Schaffen, das freilich eher zu dessen Verkennen beiträgt, auch im 20. und 21. Jahrhundert keineswegs gänzlich verstummt, im Gegenteil: Wie Maria Corti etwa 40 Jahre nach Benjamin schrieb, breitete sie sich in ‹Legionen von Aufsätzen über den persönlichen, kosmischen etc. Pessimismus›8 immer weiter aus. In solcher ‹Ausdifferenzierung› jedoch mußte sie notwendigerweise alle der These zuwiderlaufenden Differenzen, alle Offenheit und alle Widersprüche des vielschichtigen Werks, alles «todesmutige Experimentieren», alle «Neugier» und «Weltklugheit» aus dem Blick verlieren oder verbannen und statt ihrer das Werk selbst in die Gefahr des Verstummens bringen, weil sie weiter, wie der zu Beginn zitierte Settembrini in Thomas Manns wenige Jahre vor Benjamins Lektüre erschienenem Roman, nur von Unglück, Elend und Demütigung, von Niederungen der Ironie und herabgezogener, verkümmerter Seele, von herzzerreißenden Klagen, Entbehrungen und Verzweiflung sprechen wollte, dabei aber den «schönen Silben», von denen auch Ingenieur und Leutnant «kein Wort verstanden»9, kein Gehör schenkte. Dennoch sind, wie exemplarisch die Stimmen Paul Heyses mit der Einleitung zu der von ihm übersetzten Werkausgabe und Antonio Pretes mit seinem jüngsten Buch, La poesia del vivente, zeigen, seit dem 19. Jahrhundert und bis in die Gegenwart auch jene Stimmen niemals völlig verstummt, die weder den Pessimismus für «die einzig befriedigende Lösung aller Tages- und Menschheitsfragen» halten noch gar Leopardis «memento vivere» vom «Phrasengeräusch der Pessimisten»10 übertönen lassen.

      Auf den Spuren dieses memento vivere Leopardis, das sich weder auf die verschiedenen Pessimismen noch auf irgendeinen Optimismus reduzieren läßt, sondern in seinem Skeptizismus offen bleibt für immer neue Lesarten, bewegen sich die im vorliegenden Band versammelten Beiträge des Bonner Leopardi-Tags 2019. Dabei geht es in einem ersten Teil, dessen Beiträge vor allem von Pensieri (Helmut Meter), Operette morali (Antonio Panico) und Zibaldone (Martina Kollroß) ausgehen, unmittelbar um das Leopardische Konzept des Lebens und der Lebenskunst, das selbstverständlich immer auch die Frage noch dem Tod einschließt. Im zweiten Teil werden (in den Beiträgen von Milan Herold und Paul Strohmaier) wider die hartnäckige Pessimismus-These vielfältige Überlegungen zur vielgestaltig präsenten Heiterkeit im Werk Leopardis an- und vorgestellt, bevor zur Widerlegung der allzu schlichten These im dritten Teil einzelne canti, Il risorgimento (Giuseppe Antonio Camerino) und Il tramonto della luna (Annika Gerigk), einer je neuen und genauen Lektüre unterzogen werden. Der vierte Teil schließlich zeigt facettenreich, in welchem Maße Leopardi und sein Werk unaufhörlich in einem Dialog stehen und zum Dialog anregen: So entstehen seine Texte zum einen im Austausch und in der Auseinandersetzung mit früheren Autoren und Werken wie etwa Pascal, Leibniz, Voltaire (Giulia Abbadessa) oder Rousseau (Luigi Camerino); zum anderen wird Leopardis Denken und Dichten seinerseits Gegenstand von De Sanctis’ Dialog Leopardi e Schopenhauer (Giovanni di Stefano), und zum dritten bleibt sein Werk seit dem 19. Jahrhundert und bis in die Gegenwart wichtiger Dialogpartner späterer Autorinnen und Autoren, wie hier (im Beitrag von Uta Degner) die Lyrik Ingeborg Bachmanns ihrerseits bild- und sprachmächtig vor Augen und Ohren führt. Zugleich falten die Beiträge in ihrer Gesamtheit so den doppeldeutigen Titel einer Lebenskunst nach Leopardi auseinander, indem sie von der ‹Lebenskunst gemäß Leopardi› im ersten Aufsatz bis zur ‹Lebenskunst seit Leopardi› im letzten reichen und so in vielen Facetten einmal mehr den Facettenreichtum des offenbar unerschöpflichen Werks und der von ihm zu erlernenden Lebenskunst aufscheinen lassen.

      Herausgeber und Herausgeberin dieses Buches, die auch schon als Organisator und Organisatorin der Tagung über die Lebenskunst nach Leopardi fungierten, danken allen Beiträgerinnen und Beiträgern sehr herzlich für ihre Mitwirkung am vorliegenden Band und für ihr Sich-Einlassen auf das «todesmutige Experimentieren» wider das «Phrasengeräusch der Pessimisten». Und ebenso danken wir, auch im Namen der Deutschen Leopardi-Gesellschaft, der Universität Bonn und den dortigen romanistischen Kolleginnen und Kollegen, die das Zustandekommen der Tagung nicht nur räumlich ermöglicht, sondern – bis hin zur Drucklegung des Buches – auch materiell unterstützt haben. Für die finanzielle Unterstützung der Tagung danken wir ebenso der Arbeitsgemeinschaft literarischer Gesellschaften und Gedenkstätten e.V., dem Istituto Italiano di Cultura Köln und der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Und für die Betreuung dieses weiteren Ginestra-Bandes gilt unser Dank für die bewährte Unterstützung und die Geduld wiederum Kathrin Heyng und dem Narr-Verlag, bei denen wir dieses Periodikum der Leopardi-Gesellschaft so gut aufgehoben wissen.

      Bonn und Eichstätt, im September 2020

      Literatur

      Leopardi, Giacomo: Canti e frammenti. Gedichte und Fragmente. Italienisch / Deutsch. Übers. von Helmut Endrulat. Hg. von Helmut Endrulat / Gero Alfred Schwab. Stuttgart: Reclam 2011.

      —: Gedanken. Pensieri. Aus dem Ital. übertr. von Richard Peters. Hamburg: Schröder 1951 [Hamburg-Bergedorf: Fackelreiter-Verlag 1928].

      —: Das Gedankenbuch. Aufzeichnungen eines Skeptikers. Auswahl und Übers. von Hanno Helbling. München: Winkler 1985.

      —: «Zibaldone. Gedanken zur Literatur», in: id.: Ich bin ein Seher. Gedichte italienisch-deutsch. [Übers. von Hanno Helbling.] Kleine moralische Werke. [Übers. von Alice Vollenweider.] Zibaldone: Gedanken zur Literatur. [Übers. von Sigrid Siemund.] Aus dem Ital. hg. von Sigrid Siemund. Leipzig: Reclam 1990, 345–480.

      —: Opuscula moralia oder Vom Lernen, über unsere Leiden zu lachen. Operette morali. Ausgesucht und übers. von Burkhart Kroeber auf Basis der Erstübersetzung von Paul Heyse. Berlin: AB – Die andere Bibliothek 2017 (Die andere Bibliothek, 389).

      —: Poesie e Prose. Vol. I. Poesie. A cura di Mario Andrea Rigoni con un saggio di Cesare Galimberti. Milano: Mondadori 31990.

      —: Poesie e Prose. Vol. II. Prose. A cura di Rolando Damiani. Milano: Mondadori 1988.

      —: Zibaldone. Ed. commentata e revisione del testo critico a cura di Rolando Damiani. 3 tomi. Milano: Mondadori 32003.

      Rousseau, Jean-Jacques: Les Rêveries du promeneur solitaire, in: id.: Œuvres complètes. Vol. I. Les Confessions. Autres Textes autobiographiques. Éd. publiée sous la direction de Bernard Gagnebin / Marcel Raymond. Paris: Gallimard 1981 (Bibliothèque de la Pléiade, 11), 993–1099.

      Abbrugiati, Perle: «Leopardi entre désir de sens et désir de bonheur», in: Italies. Littérature – Civilisation – Société 7 (2003), 89–96. Verfügbar unter: https://doi.org/10.4000/Italies.1295 [25.8.2020].

      Affinati, Eraldo: «Il passero solitario», in: Lectura leopardiana. I quarantuno «Canti» e «I nuovi credenti». A cura di Armando Maglione. Venezia: Marsilio 2003, 223–227.

      Agamben, Giorgio: Il linguaggio e la morte. Un seminario sul luogo della negatività. Terza ed. accresciuta. Torino: Einaudi 2008 [1982].

      Alcorn, John: «Giacomo Leopardi’s Art and Science of Emotion in Memory and Anticipation», in: Modern Language Notes 111 (1966), 89–122.

      Aloisi, Alessandra: «Fisica e metafisica della noia nelle Operette morali di Leopardi», in: Rivista internazionale di studi leopardiani 6 (2010), 61–78.

      Aquilecchia, Giovanni: «Il Passero solitario di Leopardi e un sonetto del Molza», in: Italian Studies 33 (1978), 77–82.

      Baldin, Maurizio: «La memoria classico-poetica in due Idilli leopardiani: ‹Il passero solitario› e ‹La sera del dì di festa›», in: Studi leopardiani 8 (1996), 43–66.

      Bárberi