Daß der canto und das, was er wie besingt, in einem Band über die «arte del vivere» und «anti-pessimistische Strategien» damit nicht seinerseits zum Verstummen gebracht werden kann, mag auf einen ersten Blick als petitio principii erscheinen, gründet sich aber weiterhin auf den Wortlaut des Textes und auf die bereits zitierten wie auch weitere Passagen des Leopardischen Werks. Keinesfalls soll damit suggeriert werden, es handle sich um ein per se fröhliches oder gar – horribile dictu – optimistisches Gedicht: Dies hieße, die Komplexität von Leopardis Texten einmal mehr, nur von der anderen Seite her, weit über Gebühr zu reduzieren, wenn nicht zu verfälschen – und nicht umsonst spricht der Bandtitel von anti-pessimistischen, nicht von optimistischen Strategien. Dennoch gilt es, dem nachzugehen, daß in diesen schönen, klangvollen und daher weiterklingenden Versen mehr stecken muß als nur ein pessimistischer Leopardi, der aus seinem engen Recanati nicht herauskommt und das ganze menschliche Leben unter einem ebensolchen Zeichen der Enge und Ausweglosigkeit sieht. Einmal mehr ließe sich mit und frei nach Hölderlin3 sonst fragen: «Wozu Dichte[n] in dürftiger Zeit?» und antworten: «Was bleibet aber, stiften die Dichter.»
Fraglos ist das bereits angesprochene Thema der Zeit als die zentrale Isotopie des Gedichts in vielfachen Bedeutungsaspekten so präsent, daß man die Zeit als das trotz seiner Vielfalt alle einzelnen Aspekte einende Element bezeichnen kann. Auffallend ist dabei, wie insbesondere Gier herausarbeitet4, daß unterschiedliche Ebenen, unterschiedliche Bezugsrahmen der Zeit kombiniert werden, wenn etwa gleich im ersten Versabschnitt zunächst vom ‹Sterben des Tages› die Rede ist, mithin vom sterbenden Tageslicht am Abend (v. 3), danach von der «primavera», dem Frühling (v. 5), und schließlich von der besten Zeit der Vögel (v. 11), von der Blüte des Lebens und der des Jahres (v. 16). Bezogen auf den Vogel werden hier Tageszeit, Jahreszeit und Lebenszeit thematisiert, so wie erneut im folgenden Abschnitt bezogen auf das Ich: Wieder wird der Frühling erwähnt, die untergehende Sonne am Ende des heiteren Tages und die Jugend im Gegensatz zum fortgeschrittenen Alter. Im dritten Versabschnitt, der im Gegensatz zum bisherigen Präsens als der typischen Zeit für Beschreibungen in einem visionären Futur gehalten ist, taucht erneut der Abend auf und in v. 50 die «vecchiezza», das Alter, in dem jeder künftige Tag dunkler, aussichtloser erscheint als der gegenwärtige: «fia […] il dí futuro | Del dí presente più noioso e tetro» (v. 54sq.).
Doch Tageszeit, Jahreszeit und Lebenszeit werden nicht nur nebeneinandergestellt; sie werden auch miteinander verflochten, in der Weise, daß jede zur Metapher, vielleicht auch einer Art metonymischer Metapher der anderen werden kann: So werden Jahreszeit und Lebenszeit nicht nur wie in v. 16 mit der Blüte des Lebens und des Jahres parallelisiert; vielmehr kann, nachdem der erste Versabschnitt zu solchem Lesen angeleitet hatte, im zweiten das eine unmittelbar für das andere einspringen: «Passo del viver mio la primavera», singt das Ich in v. 26, um unmittelbar danach von dieser metaphorischen Verwendung der Jahreszeit zur eigentlichen Verwendung der Tageszeit zurückzuspringen: «Questo giorno ch’omai cede alla sera» (v. 27). Der sich dem Abend zuneigende Tag kehrt im dritten Teil wieder, nun aber erneut in metaphorischem Gebrauch, wenn das Ich sein Vögelchen mit einer poetischen Apostrophe anspricht mit den Worten: «Tu, solingo augellin, venuto a sera | del viver che daranno a te le stelle» (v. 45sq. [‹wenn Du am Abend der Lebensspanne angekommen sein wirst, die dir die Sterne zuweisen›]). Dieses poetische Bild des Lebensabends ist die letzte bildliche Evokation des Themas Zeit, denn wenn das Ich es nun wiederum auf sich selbst bezieht, benennt es sie mit dem kruden, dem eigentlichen Wort «vecchiezza», das es zudem durch eine andere Metapher stark in den Vordergrund rückt: durch die verabscheute, aber gleichwohl nicht zu umgehende Schwelle zu diesem Alter. Dementsprechend wird diese Lebensphase in den folgenden Fragen auch nicht wieder poetisch als Herbst oder Abend stilisiert; vielmehr weist das Demonstrativum «questi» schlicht und klar auf ‹diese meine Jahre› hin, insofern «quest’anni miei» die «vecchiezza» wieder aufnimmt, so daß das ebenso bildhafte wie bilderreiche Gedicht in ein ungeschöntes Benennen mündet, dem die offenen Fragen und der klagende Ausruf korrespondieren.
Aber nicht nur die für den Vogel und für das Ich jeweils gebrauchten Bezeichnungen divergieren hier; vor allem unterscheidet sich, wie das Ich darlegt, die Haltung, die der Besungene und der Singende, das Tier und der Mensch zu ihrer jeweiligen Lebenszeit einnehmen. Während beide sich von den jeweiligen Art- und Zeitgenossen absondern, die Einsamkeit suchen und dem lustigen Treiben allenfalls von ferne zuschauen, lebt der Vogel dabei, anders als das Ich, ganz in seiner Gegenwart: Er singt von seinem Turm aus über das Land, bis der Tag sich neigt, wie es gleich zu Beginn heißt, und singend verbringt er auch den besten Teil des Jahres und des Lebens, wie die Alliterationen und Assonanzen zusätzlich hervorheben: «alla campagna | Cantando vai» (v. 2sq.), und «canti e così trapassi | Dell’anno e di tua vita il più bel fiore» (v. 15sq.). Während also der Vogel nur seine Gegenwart kennt und jeden Tag mit seinem Gesang füllt, weiß das Ich um die Zukunft, weiß, daß die Liebe im fortgeschrittenen Alter Ursache bitterer Seufzer sein wird (cf. v. 20sq.), und läßt doch den Frühling seines Lebens einfach so vergehen: «Passo del viver mio la primavera». Zweimal weist es selbst auf den Abend hin, einmal fühlt es sich gar von der untergehenden Sonne ermahnt, deren Bild schon im zweiten Versabschnitt proleptisch den Lebensabend evoziert (cf. vv. 39–44), aber anders als der in seiner Gegenwart lebende, stets singende Vogel, anders auch als seinesgleichen, die festlich gekleidet die Straßen füllen und fröhlich miteinander umgehen (cf. vv. 32–35), verschiebt das Ich alle Freude auf eine unbestimmte Zukunft: «Ogni diletto e gioco | Indugio in altro tempo» (v. 38sq.).
Solcher Aufschub jedoch bewirkt nicht das Glück, von dem Leopardi im Zibaldone, wo er an verschiedenen Stellen seine teoria del piacere entfaltet, schreibt, es sei nur in der Erinnerung, im Rückblick, oder in der Hoffnung darauf, in einer imaginierten Zukunft, zu haben, nie in der Gegenwart, weil es, insofern es zwangsläufig ein Streben nach unbegrenztem Glück ist, nur in der Imagination ‹verwirklicht› werden kann, hinter der die konkrete Erfüllung stets zurückbleibt. So genügt dem Ich das Treiben der festlich gekleideten jungen Menschen nicht, allein die mahnenden Strahlen der untergehenden, der sich quasi auflösenden Sonne führen ihm vor Augen, daß eine Zeit kommen wird, in der auch diese unbestimmte ‹andere Zeit›, auf die es sein erfülltes Leben verschoben hatte, Vergangenheit sein wird.
Eben diese Zukunft, in der «[s]ollazzo e riso, […] amore, […] diletto e gioco» keinen Ort und keine Zeit mehr haben werden, imaginieren die letzten Zeilen, die das Alter des Vogels und das des Ich vor Augen stellen und so vorwegnehmen: Während der Vogel dank seiner ständigen Gegenwärtigkeit auch dann seine Gegenwart hinnehmen wird, wie sie ist, nicht nach Unerreichbarem streben und sich nicht bedauernd zurückwenden – «Non ti dorrai» (v. 48) –, fürchtet das Ich die Zeit schon vorab, in der ihm die Welt leer scheinen wird, seine Augen kein Herz eines anderen mehr ansprechen werden und jeder Tag dunkler sein wird als der vorausgehende. Das einzige, was dann bleibt, ist, zu bereuen und sich zurückzuwenden, wohl wissend, daß darin kein Trost zu finden sein wird. Genau gegensätzlich also, verglichen mit dem ‹jugendlichen Irrtum› in Petrarcas Eröffnungsgedicht, dessen Ich ebenfalls im vorletzten Vers nur die Reue beim Blick auf das vergangene Leben bleibt, bereut das Ich im Passero solitario nicht, sich dem, was der Welt gefällt und doch nur leerer Schein ist, zu sehr hingegeben zu haben; es bereut vielmehr, die Jugend in der Erwartung des Aufgeschobenen nicht gelebt zu haben und sich nunmehr nur zu ihr zurückwenden zu können.
Das Tier also lebt glücklich, wie es der Elogio degli uccelli bereits vorgeführt hatte und wie die Zusammenschau der beiden Texte von anderer Warte her vorführt: Der unaufhörliche Gesang, der einem Lachen gleicht und das Leben der Vögel an das der Kinder erinnern läßt, signalisiert das ungebrochene Sein in der Gegenwart, das weder Vergangenheit noch Zukunft kennt. Das Ich hingegen lebt nur in der imaginären Vorwegnahme der Zukunft oder der Zurückwendung zur Vergangenheit; es scheint seine Gegenwart trotz des Carpe diem der untergehenden Sonne nicht zu erleben. Vielmehr besitzt es, anders als der Vogel und die Kinder, die Fähigkeit zur Reflexion, die aber, begnügt man sich mit der oberflächlichen Lesart, eher eine unheilvolle Gabe ist und einmal mehr das Tier dem Menschen entgegensetzt. Denn während das Tier einfach seiner Natur folgt und sich und diese nicht in Frage stellt – «di natura è