Der Palast des Poseidon. Thomas Thiemeyer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Thiemeyer
Издательство: Bookwire
Серия: Die Chroniken der Weltensucher
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783948093327
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Reeder waren zu gierig geworden. Die Herren in den obersten Etagen füllten sich hemmungslos die Taschen, während sie ihre Arbeiter schamlos ausnutzten. Gewerkschaften gab es damals noch nicht. Es war eine moderne Form der Sklaverei und die Opfer waren zahlreich. Wie dem auch sei …«, der Professor atmete tief durch, »… eines Tages stand Livanos wieder vor unserer Tür. Es war unglaublich, wie sehr er in den vier Jahren gereift war. Aus dem Jungen war ein Mann geworden. Ein Mann, der vor Tatkraft und Ideen nur so sprühte. Doch der Tod seines Vaters und seines Bruders hatte Spuren bei ihm hinterlassen. Schon damals glaubte ich eine gewisse Besessenheit bei ihm festzustellen. Ein Funkeln in den Augen, das darauf hindeutete, dass er von etwas getrieben wurde. Und ich hatte mich nicht geirrt. Livanos fand Geldgeber und begann sofort damit, eine gewaltige Anlage im Hafen von Piräus zu installieren.«

      »Jetzt, wo Sie es sagen«, warf Humboldt ein, »ich glaube mich zu erinnern, darüber mal einen Artikel in der Zeitschrift Popular Science gelesen zu haben. Er baute irgendeine Werftanlage, habe ich recht?«

      »Nicht irgendeine Werft«, korrigierte ihn der Professor. »Die Werft. Eine Anlage, an deren Plänen er schon während unserer Studienzeit gearbeitet hatte. Ein vollautomatisiertes Wunderwerk, das beinahe ohne menschliche Arbeitskraft auskommt. Im Ausstellungsraum existiert ein Modell davon. Wollen Sie es sehen?«

      Ein paar Minuten später trafen sie in der großen Ausstellungshalle des Polytechnikums ein. Oskar hatte noch niemals so detaillierte Schiffsminiaturen gesehen. Die kleinen Wunderwerke waren maßstabsgerecht bis hinunter auf die einzelnen Nieten gebaut worden. Winden, Planken, Steuerräder, kein noch so kleines Detail fehlte. Sogar die Besatzung war zu sehen. Winzige Figuren, die beinahe lebendig wirkten.

      »Hier drüben«, sagte Papastratos und winkte sie zu sich.

      Er stand vor einer mannsgroßen Glasvitrine, in der ein riesiges, wenn auch unübersichtliches Modell ausgestellt war. Es zeigte eine badewannenähnliche Konstruktion, die ganz und gar aus Gerüstteilen gefertigt zu sein schien. An ihrem Kopfende befand sich so etwas wie eine Kommandostation, die die Anlage weithin sichtbar überragte. Hinter den breiten Glasfronten waren winzige Figuren zu sehen – augenscheinlich der Kommandant und sein Stab an Assistenten. Weiteres Personal gab es nicht. An den Längsseiten waren Dutzende von Kränen angebracht, die ein Schiff komplett aus dem Wasser heben konnten. Die Schmalseite gegenüber der Brücke war offen, sodass Schiffe jedweder Größe problemlos ins Innere der Werft fahren konnten. Es gab jedoch eine Sache, die Oskar nicht verstand. »Was sind denn das für riesige tonnenförmige Gebilde? Die sehen fast aus wie ein Schwimmring.«

      »Damit liegst du gar nicht so falsch, mein junger Freund.« Papastratos lächelte. »Es sind Pontons. Sie ermöglichen dem Kommandanten, die Werft hinaus auf hohe See zu fahren. Statt die Schiffe zur Reparatur an Land zu hieven, kommt die Werft einfach zu ihnen. Somit können auch havarierte Schiffe mühelos instand gesetzt werden. Livanos gab seiner Erfindung den Namen Leviathan.«

      »Faszinierend«, sagte Humboldt. »Eine vollautomatisierte Werkstatt für Schiffe. Wie wird sie gesteuert?«

      »Keine Ahnung. Ich selbst habe die Steuerzentrale nie zu Gesicht bekommen. Es ging das Gerücht, er hätte dort eine Maschine installiert. Etwas, das zur Steuerung höherer Funktionen dient. Niemand durfte sie sehen. Livanos befürchtete wohl Werkspionage. Er war über die Jahre zu einem ausgesprochen misstrauischen, um nicht zu sagen, paranoiden Menschen geworden. Er witterte Feinde an jeder Ecke.«

      »Was geschah dann?«

      »Der Bau erfolgte unter strengster Geheimhaltung. Die Konstruktion benötigte drei Jahre Arbeitszeit und verschlang Millionen von Drachmen. Livanos arbeitete wie ein Besessener. Es gab keinen Tag, an dem er nicht auf der Baustelle zu finden war. Er schuftete rund um die Uhr. Achtzehn, neunzehn Stunden lang. Seinen Arbeitern verlangte er alles ab, auch wenn er ihnen wesentlich bessere Sicherheitsbedingungen als die anderen Schiffbauer bot. Eine Zeit lang sah es so aus, als würde das Mammutprojekt scheitern, doch dann fand Livanos neue Geldgeber und konnte weiterbauen. Ende 1883, also vor knapp zehn Jahren, war es dann endlich so weit. Die Werft näherte sich ihrer Vollendung. Doch dann ging etwas schief. Die Werft war beinahe fertiggestellt und befand sich gerade draußen zu Probereparaturen an einem beschädigten Dampfschiff. Plötzlich hallte ein tiefes Rumpeln über das Meer. Es gab eine mächtige Explosion, wie Augenzeugen berichteten. Flammenbälle stiegen auf, die den havarierten Frachter Odysseus in der Mitte zerrissen und in Minutenschnelle sinken ließen. Sämtliche Besatzungsmitglieder fanden den Tod. Die Werft selbst trieb führerlos über das Meer. Man versuchte, sie zurückzuschleppen, doch ein aufkommender Sturm machte die Bemühungen zunichte. Sie wurde von den Halteleinen getrennt und hinaus in die dunkle Nacht getrieben. Als man am nächsten Morgen nach ihr suchte, fand man nur noch herumtreibende Wrackstücke. Die Werft selbst war in den Fluten versunken.«

      »Also kein Seeungeheuer.«

      »Natürlich nicht. So etwas wie Seeungeheuer gibt es nicht.«

      »Und Livanos?«

      »Vermutlich tot.« Der Professor senkte den Blick. »Vielleicht war das ganz gut so. Was danach kam, war eine regelrechte Hetzkampagne. Sein Name wurde in den Schmutz getreten. Man bezeichnete ihn als Wahnsinnigen, der sich keinen Deut um Menschenleben scherte, als besessenen Wissenschaftler, der von seiner eigenen Erfindung in den Tod gerissen worden war. Sein Name stand gleichbedeutend für Größenwahn und Vermessenheit. Seine Geldgeber waren ruiniert und die Erfindung geriet in Vergessenheit. Dieses Modell hier ist alles, was von dem kühnen Projekt übrig geblieben ist.«

      10

      Der Norweger stand hinter der großen Eingangssäule. Geduldig wie eine Spinne verharrte er in seinem Versteck. Den Hut tief in die Stirn gezogen, die Arme vor der Brust verschränkt, wartete er ab. Sein schmales Gesicht lag im Schatten. Die Hitze machte ihm nichts aus. Er lebte lange genug in Griechenland, um keinen Gedanken mehr an Wetter und Temperaturen zu verschwenden. Egal, ob Winter oder Sommer, stets trug er die gleiche Kleidung. Weiche Stiefel, lederne Hosen und natürlich seinen langen grauen Mantel, der sein Arsenal von Fern- und Nahkampfwaffen verbarg. Seine Spezialität waren Giftwaffen. Nicht nur in Form kleiner Kapseln und Tränke, die sich geschmacksneutral in Weingläsern und Nahrungsmitteln auflösen ließen, sondern auch Pfeile, die so winzig waren, dass sie jedes Material durchdringen konnten. Abgefeuert aus einem Blasrohr oder mit seinem schallgedämpften Präzisionsgewehr, spürten seine Opfer kaum mehr als bei einem Insektenstich. Ein sanftes Streicheln mit der Hand, und die Pfeile fielen wie von alleine aus der Stichwunde. Das Gift, das in winzigen Kapseln im Inneren schlummerte, hatten sie zu diesem Zeitpunkt längst abgegeben. Es handelte sich um ein Nervengift, das aus einer im Indopazifik beheimateten Krakenart gewonnen wurde. Nach mehreren Minuten führte das Gift zu einer Lähmung, die schließlich in Herzversagen mündete. Die Opfer erlitten weder Schmerzen noch einen stundenlangen qualvollen Tod. Im Körper war das Gift nicht nachzuweisen. Für den obduzierenden Arzt sah es so aus, als habe das Herz einfach aufgehört zu schlagen. Die perfekte Waffe, wenn man keine Spuren hinterlassen wollte. Doch der Norweger verstand sich auch auf andere Tötungstechniken. In seiner Heimat war er auf Morde mit Eisdolchen spezialisiert gewesen, später dann, in Bulgarien, hatte er seine Waffen mit Steinsalz geladen, deren Kristalle sich im Blut der Opfer auflösten.

      Die polizeiliche Ermittlungsarbeit war in den letzten Jahren so weit fortgeschritten, dass in neunzig Prozent aller Fälle die Analyse der Waffe zu einer Festnahme des Mörders führte. Doch was, wenn es keine Waffe gab? Seine Tötungswerkzeuge verschwanden entweder oder sie waren nicht nachzuweisen. Keiner seiner bisherigen Aufträge hatte den Behörden einen Anhaltspunkt geliefert, der den Verdacht auf ihn lenkte. Und so sollte es auch bleiben.

      Sein Druckluftgewehr unter dem Mantel verbergend, stand er hinter der Säule und wartete.

      Die Uhr des nahe gelegenen Kirchturms schlug fünf. Der Besuch der seltsamen Reisegruppe dauerte jetzt schon über vier Stunden. Was hatten die da drinnen so lange zu bereden? Er war zwar gewohnt, stundenlang in einem Versteck auszuharren, aber so langsam riss ihm der Geduldsfaden. Sein Instinkt sagte ihm, dass irgendetwas nicht stimmte.

      Auf einmal drang Hufgetrappel an sein Ohr. Ein Reiter kam auf das Universitätsgelände galoppiert und näherte sich seiner Position.