Oskar runzelte die Stirn. »Überschaubar? Dieser Kapitän hat von einem Seeungeheuer gesprochen! Von riesigen Fangarmen, die sein Schiff in die Tiefe gezogen hätten! Ich finde, dass das äußerst bedrohlich klingt.«
Charlotte stieß ein kleines Lachen aus. »Und so etwas glaubst du?«
»Du etwa nicht?«
»Mein lieber Oskar, deine Abenteuerromane in allen Ehren, aber du solltest wirklich etwas realistischer sein. Das ist Seemannsgarn. Die Wahrscheinlichkeit, dass es so ein Lebewesen wirklich gibt, ist so gering wie die Chance, innerhalb der nächsten hundert Jahre zum Mond fliegen zu können.« Sie strich eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht.
»Und die Rieseninsekten in Peru? Wie groß waren die Chancen, dass wir auf solche Kreaturen stoßen? Und vorhin erzählt mir dieser Nikomedes, dass es den Minotaurus vielleicht doch gegeben hat. Also wenn du mich fragst, meine Abenteuerbücher sind alle noch nicht abenteuerlich genug. Ich habe keine Lust, gleich wieder dem nächsten Monstrum in die Hände zu fallen.«
Charlotte gab ein abfälliges Schnauben von sich. Zuerst sah sie so aus, als wäre das Thema damit für sie erledigt, doch dann schien ihr noch etwas einzufallen. Sie neigte den Kopf und fragte mit einem verschmitzten Augenaufschlag: »Hast du etwa Angst?«
»Ob ich …? Quatsch!«
»Klang aber so.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Bleiben wir doch bei den Fakten. Der Mann war betrunken. Er steuert sein Schiff gegen eine Klippe und behauptet, ein Seeungeheuer habe ihn angegriffen. Klingt für mich nach einem Fall für die Schifffahrtsbehörde.«
»Ja, wenn es nach dir ginge, wäre immer alles erklärbar«, murrte Oskar. »Was für eine trostlose Welt.«
Humboldt hob beschwichtigend die Hände. »Halt, halt. Ehe ihr beide euch an die Gurgel geht, möchte ich auch noch etwas dazu sagen. Zum einen: Du hast wahrscheinlich recht, Charlotte. Vermutlich war der Mann betrunken und vermutlich gibt es gar kein Seeungeheuer. Aber wir dürfen die Möglichkeit nicht außer Acht lassen, dass irgendetwas anderes den Untergang des Schiffes bewirkt hat. Vielleicht ein Tornado oder eine Anomalie im Wasser. Man hört ja immer wieder von sogenannten Malströmen.« Er ließ seine Hände auf den Tisch sinken. »Für mich gibt es gute Gründe, diesen Auftrag anzunehmen. Wie ihr wisst, habe ich vor, mein Luftschiff in naher Zukunft zu modernisieren. Mein Labor bedarf einer dringenden Überholung und ihr benötigt eine neue Ausrüstung. Alles Dinge, die Geld kosten. Nikomedes hat mir für die Aufklärung des Falles einen beträchtlichen Betrag angeboten. Wenn es uns gelingt herauszubekommen, was am 19. Mai dieses Jahres tatsächlich geschehen ist, sind wir gemachte Leute. Dieser Auftrag, zusammen mit dem Patent für ein Luftschiff, das ich Graf von Zeppelin verkauft habe, spült einiges an Bargeld in unsere Kassen. Damit können wir eine ganze Weile gut leben und forschen. Abgesehen von der Reputation, die uns ein solcher Auftrag einbringt.« Er zwinkerte ihnen zu. »Wenn ihr mich fragt: Ich halte das Risiko wirklich für überschaubar und werde den Auftrag, wenn nötig, auch alleine übernehmen. Meine Frage an euch lautet also: Seid ihr mit dabei oder wollt ihr lieber hierbleiben?«
»Ob wir …?« Charlotte verschränkte die Arme vor der Brust. »Natürlich kommen wir mit, nicht wahr, Oskar?«
Oskar stieß einen tiefen Seufzer aus. So richtig große Lust verspürte er keine, aber als Feigling wollte er auch nicht dastehen.
»Klar«, murmelte er.
»Fein.« Humboldt rieb sich die Hände. »Dann können wir gleich zum nächsten Punkt kommen. Ich habe die Angaben des Reeders überprüft und festgestellt, dass er vertrauenswürdig ist. Die Familie Nikomedes zählt zu den reichsten in ganz Griechenland. Sie ist sehr alt und einflussreich. Ihr gehören nicht nur die erwähnten Frachter, sondern auch eine Fischfangflotte sowie die daran angeschlossenen Betriebe. Fabriken, die den Fisch zu Konserven verarbeiten, Lagerhallen, Versandunternehmen, das ganze Programm.« Humboldt seufzte. »Tja, das ist die Zukunft, meine Lieben: Fisch aus der Dose, wann immer man Appetit darauf hat. Wahlweise natürlich auch Muscheln oder Tintenfische.«
Charlotte rümpfte die Nase. Oskar hingegen hatte nichts gegen Dosenfisch. Wenn man Hunger hatte, schmeckte alles lecker, selbst irgendein matschiges Seelebewesen in Öltunke.
»Morgen werden wir die Pachacútec aus ihrem Heuschober in Spandau befreien«, fuhr der Forscher fort. »Die alte Dame dürstet danach, wieder mal Wind unter ihrem Rock zu spüren. Unser Ziel ist Athen.« Er tippte auf die Karte. »Laut Nikomedes’ Angaben sind auch andere Reedereien von den Angriffen betroffen. Es wird gemunkelt, dass sich die Gesamtzahl der verschwundenen oder gesunkenen Schiffe auf ein Dutzend beläuft. Das Merkwürdige ist, dass bisher nur Metallschiffe betroffen waren. Holzschiffe wurden verschont. Die Berichte stammen von den Inseln Milos, Ios und Anafi, alle im Bereich des Kretischen Meeres. Wenn es einen ersten Anlaufpunkt gibt, dann die Schifffahrtsbehörde in Athen.«
»Und was ist mit dem Seeungeheuer?«, fragte Oskar unbehaglich. »Sollten wir uns nicht wenigstens irgendwo erkundigen, ob ein solches Wesen schon mal gesichtet worden ist?«
»Gute Idee«, sagte Humboldt. »Wie es der Zufall so will, befindet sich in Athen das größte Institut für Meeresbiologie im gesamten Mittelmeerraum. Auch wenn die Chancen gering sind, dass wir dort etwas über das Ungeheuer erfahren, so ist es doch ein guter Anlaufpunkt für weitere Nachforschungen.«
»Warum nehmen wir nicht den Zug?«, schlug Charlotte vor. »Wir könnten die beiden Herren begleiten und bei der Gelegenheit noch mehr Informationen einholen.«
»Im Prinzip wäre dagegen nichts einzuwenden, aber es gibt einen Grund, warum ich lieber per Luftschiff reisen möchte.«
»So? Welchen denn?«
»Ich glaube, dass es das Beste ist, wenn wir vor ihnen in Athen sind. Nikomedes hat eine Andeutung gemacht, die mich stutzig werden ließ. Er sagte, unsere Nachforschungen könnten nicht überall auf ungeteilte Zustimmung stoßen. Was er damit genau meinte, habe ich nicht herausbekommen, aber es hat gereicht, um bei mir die Alarmglocken schrillen zu lassen.« Humboldt warf ihnen einen ernsten Blick zu. »Es ist gut möglich, dass die beiden überwacht werden. Es wäre also ganz hilfreich, wenn wir unsere Untersuchungen schon abgeschlossen hätten, ehe sie wieder in Athen eintreffen.« Er fuhr mit dem Finger über die Karte. »Um unentdeckt zu bleiben, werden wir nachts und über unbebautes Gebiet fliegen. Zuerst geht es über die Alpen, dann ab nach Triest, über die Adria und runter bis nach Griechenland.« Sein Finger beschrieb eine Linie quer über den Plan. »Wenn wir über den Golf von Korinth manövrieren, können wir uns Athen ungesehen bis auf wenige Kilometer nähern. Ich habe vor, die Pachacútec irgendwo in den Hügeln hinter Chaidari zu landen, einem kleinen Dorf in den Hügeln außerhalb Athens. Es gibt dort ein entlegenes Tal, wo man unser Schiff nicht finden wird. Von dort aus mieten wir uns eine Kutsche und fahren nach Athen. Es ist eine großartige Stadt, sie wird euch gefallen.«
Eliza warf Humboldt einen skeptischen Blick zu. »Hast du keine Angst, dass jemand das Schiff findet und damit davonfliegt?«
»Ich kenne die Gegend von früheren Reisen«, erwiderte der Forscher. »Sie ist absolut menschenleer. Aber selbst wenn sich mal ein einsamer Hirte dorthin verirren sollte, die Pachacútec ist mit einigen technischen Neuerungen ausgestattet, die jeden Dieb in die Flucht schlagen würden. Du brauchst dir also keine Sorgen zu machen.«
Oskar blieb skeptisch. Wenn ihn das Leben eines gelehrt hatte, dann das: Wenn etwas schiefgehen konnte, ging es in den meisten Fällen auch schief. Diese Einstellung hatte ihm schon oft das Leben gerettet. Er wagte aber nicht darüber nachzudenken, was das in ihrem speziellen Fall wohl bedeuten mochte.
»Keine