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Es ging bereits auf vier Uhr zu, als Oskar und Charlotte die Tür zum Dachboden erreichten. Der Eingang lag nicht weit von Charlottes Zimmer entfernt, aber Oskar hatte ihn noch nie bemerkt, weil er gut versteckt war. Er war nur über eine herausziehbare Holzleiter zu erreichen, die beinahe unsichtbar in die Decke eingelassen war.
»Da wären wir«, sagte Charlotte. »Kannst du mal kurz die Lampe halten?« Sie nahm einen Holzstab mit einem Metallhaken von der Wand, hängte ihn in den Ring am unteren Ende der Luke und zog daran. Die an Federn aufgehängte Ausziehleiter kam ihnen entgegen und Charlotte ließ sie am Boden einrasten. »Vergiss Wilma nicht.« Der kleine Vogel saß in seinem Körbchen und blickte erwartungsvoll zu den beiden Jugendlichen hoch. Er hatte unmissverständlich zu erkennen gegeben, dass er bei der Exkursion dabei sein wollte, und da er die Treppe nie alleine hochgekommen wäre, war das die praktikabelste Lösung.
»Warst du schon mal hier oben?« Oskar gab Charlotte die Lampe zurück und nahm stattdessen das Körbchen.
»Ist schon eine ganze Weile her«, sagte sie, während sie nach oben kletterte. »Das erste Mal war ich etwa vier oder fünf Jahre alt. Meine Eltern hatten mich auf einen Sonntagnachmittagsbesuch mitgenommen und ich habe mich fürchterlich gelangweilt. Ich weiß noch, wie mein Onkel mich an die Hand genommen und hier hinaufgeführt hat. Seitdem war ich von diesem Haus fasziniert. Am besten, du schaust es dir selbst an.«
Oben angekommen, schloss Charlotte die Luke und schob den Riegel vor. Oskar öffnete Wilmas Körbchen. Die Kiwidame sprang heraus und fing sogleich an, die dunklen Winkel zu durchstöbern.
Verwundert blickte Oskar sich um. Wenn er geglaubt hatte, einen düsteren, unaufgeräumten Dachboden vorzufinden, sah er sich getäuscht. Der Raum war an die fünf Meter breit und mindestens zwanzig lang. In der Mitte standen Regale, die bis zu dem spitzgiebeligen Dach emporragten und in denen unzählige Präparate und Fundstücke lagen. Rechts und links waren flache Vitrinen angebracht, in denen Versteinerungen, Mineralien, Kristalle, ausgestopfte Tiere, Totems, hölzerne Masken, Steinfiguren, Schnitzereien und Musikinstrumente aufbewahrt wurden. In den schrägen Dachfirst waren große Fenster eingelassen, durch die man einen fantastischen Blick auf die Parkanlagen rund um den Plötzensee hatte. Warmes Nachmittagslicht strömte herein. Charlotte löschte die Lampe. »Na, habe ich dir zu viel versprochen?«
»Du meine Güte«, sagte Oskar. »Und ich dachte, es wäre nur eine einfache Abstellkammer.«
»Da kennst du deinen Herrn aber schlecht«, erwiderte sie. »Bei Humboldt ist nie etwas nur einfach. Ich glaube, es gibt keinen anderen Menschen, der so akribisch Ordnung hält. Gegen ihn bin ich geradezu schlampig veranlagt. Schau dir nur diese Fundstücke an. Alles fein säuberlich nach Ländern und Volksstämmen geordnet.« Sie nahm eine hölzerne Maske aus dem Regal und hielt sie sich vors Gesicht. »Das ist eine Maske der Makonde aus Deutsch-Südwestafrika. Die Eingeborenen verwenden sie dort für Fruchtbarkeitsrituale.« Vorsichtig legte sie die Maske wieder weg und griff nach einem gebogenen Aststück, das irgendwie hohl zu sein schien. Ein langer Spalt durchtrennte das Holz von einem Ende zum anderen. »Das ist eine Schlitztrommel. Hör mal.« Sie schlug mit einem dünnen Stab auf das Holz.
Ein melodischer Klang ertönte.
»Hm.« Oskar runzelte die Stirn. So faszinierend das alles auch war, sie hatten eine Aufgabe zu erledigen. »Wo sind denn nun die Koffer?«, fragte er. »Ich habe sie bisher noch nicht finden können.«
Charlotte warf ihm einen schrägen Blick zu. »Du bist der ungeduldigste Mensch, den ich kenne, habe ich dir das schon mal gesagt?«
»Schon öfter.« Er grinste übers ganze Gesicht. »Also, wo sind sie?«
Charlotte bedachte ihn mit einem geheimnisvollen Lächeln. »Ehe wir uns mit den Koffern befassen, wollte ich noch eine andere Sache untersuchen. Eliza sagte mir, es gäbe hier irgendwo eine Truhe, die wir uns unbedingt ansehen sollten. Sie sagte, sie enthalte einige Dinge, die für uns von großer Wichtigkeit sein könnten. Dieser Schlüssel sollte dazu passen.« Sie griff in ihre Tasche und holte einen kupferfarbenen, alt aussehenden Schlüssel mit langem Bart hervor.
»Eine Truhe …?« Das klang geheimnisvoll. Oskar spähte durch das staubige Licht. »Vielleicht dort hinten. Da steht etwas Großes, Klobiges. Lass uns mal rübergehen.«
Gemeinsam durchquerten sie den Dachboden und blieben vor der Kiste stehen. Es war ein riesiger eisenbeschlagener Kasten, der ein wenig an eine Piratenkiste erinnerte. Sein Aussehen allein reichte aus, um Oskar zu überzeugen, dass sie tatsächlich einem Geheimnis auf der Spur waren.
»Das muss sie sein. Versuchen wir es mal.«
Charlotte steckte den langen gusseisernen Schlüssel ins Schloss und drehte um. Ein Klicken ertönte. Der Riegel schnappte auf.
»Dann mal los.« Mit geröteten Wangen hob sie den Deckel.
Die Truhe war gefüllt mit Unmengen von Theaterrequisiten. Schirme, Fächer und Kostüme, dazwischen zusammengerollte Plakate und Bündel von Eintrittskarten. Stirnrunzelnd griff Oskar hinein und zog eines der Plakate hervor. »Die Fledermaus«, murmelte er, als er das Papier auseinandergerollt hatte. »Operette von Johann Strauss. Theater an der Wien, unter der Leitung von Impresario Maximilian Steiner.«
»Schau mal, hier sind noch mehr Plakate. Das Pensionat von Franz von Suppé. Und hier: Indigo und die vierzig Räuber.« Charlotte hielt eine Fotografie hoch. Darauf zu sehen war eine dunkelhaarige Frau mit einem geheimnisvollen Lächeln. Sie stand vor einem gemalten Hintergrund, der einen Park mit Tempeln darstellte. Oskar betrachtete die Frau näher: Sie trug ein helles Gewand, Pluderhosen und Schnabelschuhe. Ihre pechschwarzen Haare waren zu einer arabisch anmutenden Frisur hochgesteckt, die mit Bändern zusammengehalten wurde, was ihr das Aussehen einer Tänzerin aus Tausendundeiner Nacht verlieh.
»Theresa von Hepp«, las Charlotte, als sie die Aufnahme umdrehte. »Eine Autogrammkarte, anlässlich der Premiere von Indigo und die vierzig Räuber.«
»Auf den Plakaten steht auch überall ihr Name«, sagte Oskar. »Humboldt muss sie wohl sehr gemocht haben.«
»Eine schöne Frau«, bemerkte Charlotte. »Vielleicht hat mein Onkel mal eine Affäre mit ihr gehabt.« Sie lächelte. »Ob ich ihn mal fragen soll?«
»Lieber nicht«, erwiderte Oskar. »Er kann sehr jähzornig werden, wenn man seine Nase in seine privaten Dinge steckt.«
»Stimmt«, räumte Charlotte ein. »Eine Liebschaft würde aber erklären, warum er sich plötzlich so für die schönen Künste interessiert. Er kann nämlich mit Kunst und Musik gemeinhin recht wenig anfangen.«
»Die Plakate und Fotos sind alle schon etwas älter«, murmelte Oskar. »Weißt du, ob er früher mal in Wien gelebt hat?«
Charlotte schüttelte den Kopf. »Er ist viel gereist, aber in unserer Familie wurde nie darüber gesprochen. Mutter und er haben deswegen bis auf den heutigen Tag ein gespanntes Verhältnis.«
»Warum eigentlich?«
Charlotte zuckte die Schultern. »Angeblich, weil er fortgegangen ist, anstatt sich um die familiären Angelegenheiten zu kümmern. Meine Mutter wirft ihm vor, er hätte sie und Oma im Stich gelassen. Die beiden haben eine Weile zusammengelebt, ehe meine Großmutter starb – wahrscheinlich an der Lungenepidemie von 1882. Als Humboldt von seinen Reisen zurückkam, war sie jedenfalls tot und meine Mutter fortgezogen.«
»Hm.« Oskar war nicht wohl dabei, in Humboldts privaten Sachen herumzuwühlen. Er konnte sich auch nicht erklären, was das alles mit ihnen zu tun hatte. Er wollte so schnell wie möglich die Koffer holen und dann von hier verschwinden.
»Also ich kann nichts finden«, sagte er. »Bist du sicher, dass