Der Palast des Poseidon. Thomas Thiemeyer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Thiemeyer
Издательство: Bookwire
Серия: Die Chroniken der Weltensucher
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783948093327
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natürlichen Ursachen haben. Seebeben, Stürme, Alkoholismus, die Liste ist lang. Um ehrlich zu sein, ich habe mir so etwas gedacht, ich wollte nur erst alle Fakten beisammenhaben, ehe ich mir ein abschließendes Urteil bilde. Es gibt da allerdings eine Sache, die mich aufhorchen ließ. Vor etwa zehn Jahren schien schon einmal ein Unglück passiert zu sein. Eine Katastrophe, die erstaunliche Ähnlichkeit mit den jüngsten Fällen hat und die bis heute nicht aufgeklärt wurde. Wissen Sie etwas darüber?«

      Papastratos faltete die Hände, schwieg aber.

      »Herr Dekan, bitte. Was wissen Sie über einen Mann namens Livanos? Man sagte mir, Sie wären derjenige, der ihm am nächsten stand. Ein Spezialist, sozusagen. Man sagte mir, wenn ich etwas über ihn in Erfahrung bringen wolle, wären Sie der richtige Ansprechpartner.«

      Der Professor blickte auf. »Livanos«, sagte er. »Das ist ein Name, den ich seit einer langen Zeit nicht mehr gehört habe. Einer sehr langen Zeit …«

      Die Augen des Forschers weiteten sich hoffnungsvoll. »Dann können Sie uns also weiterhelfen?«

      Papastratos versank in Schweigen. Einerseits war er mit Arbeit eingedeckt, andererseits ließ der Name Livanos alte Erinnerungen wach werden.

      Er überlegte einen Augenblick, dann stand er auf. »Bitte entschuldigen Sie mich einen kurzen Moment.« Er öffnete die Tür und verließ das Zimmer. Als er seinen Assistenten sah, winkte er ihn zu sich. »Gregorios, ich will, dass du für heute alle Termine absagst. Ich möchte nicht gestört werden.«

      »Aber Ihr Treffen mit dem Direktor um zwei …?«

      »Ich sagte alle. Besorge uns ein paar Tassen Tee und etwas Gebäck, und zwar schnell, wenn ich bitten darf.« Er klatschte in die Hände und beobachtete, wie sein Assistent davoneilte, dann drehte er sich um und kehrte zu seinen Gästen zurück.

      Der Forscher hatte in der Zwischenzeit einen kleinen grauen Kasten hervorgeholt und ihn auf den Tisch gestellt. Papastratos blieb in der halb geöffneten Tür stehen.

      »Was ist denn das?«

      »Eine Übersetzungsmaschine«, erklärte Humboldt. »Sie wird unsere Unterhaltung erleichtern und gleichzeitig dafür sorgen, dass wir nicht belauscht werden. Möchten Sie sie einmal ausprobieren?«

      9

      Oskar verfolgte die Unterhaltung mit gespannter Erwartung. Professor Papastratos war ein eleganter, gut gekleideter Mann Mitte fünfzig, mit einem kleinen Spitzbart, einem feinen Anzug und einem Zwicker auf der Nase. Sein graues Haar war ordentlich gescheitelt und hinter die Ohren gekämmt. Der Mann sah vertrauenswürdig aus. Sein Assistent, ein neugierig dreinblickender Wuschelkopf mit leuchtenden Augen, hatte in der Zwischenzeit ein Tablett mit Tee und Blätterteiggebäck gebracht und war neugierig in der Tür stehen geblieben. Oskar sah ihm an, wie gerne er das Gespräch verfolgt hätte. Doch der Professor winkte ihn energisch hinaus. Widerstrebend verließ der Junge den Raum. Als die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, stand der Professor auf.

      »Sie wollen etwas über Alexander Livanos wissen? Nun, ich glaube, ohne Übertreibung sagen zu dürfen, dass ich ihm nahestand wie kein zweiter – obwohl wir so unterschiedlich waren wie Tag und Nacht. Er war etwas jünger als ich, doch er wusste schon damals genau, was er wollte. Livanos war eines der größten Genies unserer Zeit. Ein Mann, der gleichermaßen umstritten wie verkannt war. Alles, was er sagte, was er tat und dachte, war von einer Klarheit und Reife, wie man sie gewöhnlich nur bei wesentlich älteren Männern antrifft.« Er ging zu einem der meterhohen Bücherregale und zog einen schweren, in Leder gebundenen Band heraus. Auf dem Buchdeckel waren vorne ein Anker und ein Zahnrad eingeprägt. Papastratos rückte seine Brille zurecht und begann zu blättern. Nach einer kurzen Weile hatte er gefunden, wonach er suchte. Er drehte das Buch zu ihnen hin.

      »Das ist er.«

      Oskar reckte den Hals. Der Kupferstich zeigte einen Mann von vielleicht dreißig Jahren. Ein ebenmäßiges hübsches Gesicht mit schmaler Nase und vollen Lippen. Seine Augen schienen vor Neugier und Begeisterung zu leuchten.

      »Livanos wuchs als jüngerer von zwei Brüdern in ärmlichen Verhältnissen auf«, sagte der Professor. »Der Vater und sein Bruder arbeiteten auf der Werft in Piräus, dem Hafen von Athen. Sie schufteten von früh bis spät, um der Familie ein Auskommen zu sichern. Alexander, dessen enorme Intelligenz schon früh sichtbar wurde, ersparte man diese Tortur. Er sollte eine andere Richtung einschlagen. Er durfte eine Schule besuchen, später das Polytechnikum, wo wir beide uns kennenlernten. Ich war zwar nur ein einfacher Student, aber ich erkannte die Kühnheit seiner Entwürfe und ermunterte ihn dazu, sie seinen Professoren vorzustellen.«

      »Um was für Entwürfe ging es dabei?«, fragte Humboldt.

      »Nun, in erster Linie um Werftbauten. Vollautomatische, hoch technisierte Konstruktionen, die ein Schiff mit einem Minimum an menschlichen Arbeitskräften reparieren oder zusammenbauen können. Technische Wunderwerke, die den Arbeitern die unmenschlichen Bedingungen ersparen sollten, die Livanos in seiner Kindheit erlebt hatte.«

      »Werften«, bemerkte Humboldt nachdenklich. »Was Sie nicht sagen …«

      Er legte die Stirn in Falten und schrieb ein paar Bemerkungen in sein ledergebundenes Notizbuch.

      »Um es kurz zu machen, die Vorschläge wurden von der Fakultät rundherum abgelehnt«, fuhr Papastratos fort. »Sie wurden als Hirngespinste abgetan, als Visionen eines unreifen Jugendlichen. Dabei waren sie das Großartigste, was ich je gesehen hatte.«

      »Was geschah dann?«

      »Livanos verließ die Hochschule von einem Tag auf den anderen. Denjenigen, die ihn mochten und respektierten, erzählte er, dass er hier nichts mehr lernen könne. Er habe bereits Kontakt zu Leuten aufgenommen, die ihn auf seinem Weg unterstützen würden und die nicht so kleingeistig dachten wie die Professoren an dieser Hochschule.« Über Papastratos’ Gesicht huschte ein feines Lächeln. »Wissen Sie, er hatte recht. Die Schule war damals noch nicht, was sie heute ist. Seit Livanos fortging, hat sich hier einiges geändert, was nicht zuletzt mein Verdienst ist.« Er strich über sein Bärtchen.

      »Wissen Sie, von welchen Leuten er sprach, als er sagte, er habe Kontakt mit ihnen aufgenommen?«

      »Oh ja. Einer von ihnen war Tesla.«

      Humboldt hatte gerade seine Teetasse an die Lippen gesetzt. Er zuckte zusammen, verschluckte sich, dann begann er zu husten. Offenbar hatte er Mühe, nicht die ganze Ladung über den Tisch zu prusten. Nachdem er wieder zu Atem gekommen war und sich das Kinn abgetupft hatte, sagte er: »Nikola Tesla?«

      »Sie kennen ihn?«

      »Nicht persönlich, nein, aber ich habe von ihm gehört. Wer nicht?«

      Charlotte hob die Augenbrauen. »Wer ist denn dieser Tesla? Muss man den kennen?«

      Humboldt drehte ihr entrüstet den Kopf zu. »Liebes Kind, wo hast du die letzten sechzehn Jahre nur gelebt?«

      »In der Höheren Töchterschule in Bern, das weißt du genau.«

      »Ja, sicher«, lenkte der Forscher ein. »Ich meine nur, habt ihr da nichts Vernünftiges gelernt? Nikola Tesla ist einer der bedeutendsten Erfinder unserer Zeit!« Er zeigte auf das Linguaphon. »Einige von seinen Ideen befinden sich in diesem kleinen Kasten.« Er wandte sich wieder an den Professor. »Was geschah dann?«

      »Livanos ging wohl einige Jahre bei ihm in die Lehre, so genau kann ich das nicht sagen. Der Kontakt, den wir hatten, wurde allmählich spärlicher und riss schließlich ab. Wie ich hörte, verließ er Tesla irgendwann, um auf einer Werft in Marseille zu arbeiten. Doch hundertprozentig bestätigen kann ich das nicht. Was dann geschah, war mehr als tragisch. Binnen kurzer Zeit kamen sowohl sein Vater als auch sein Bruder bei der Arbeit in den Werften um. Beide starben, weil die Sicherheitsbedingungen so schlecht waren. Es wurde gespart, wo man nur konnte, und die Opfer dieser Entwicklung waren immer die Arbeiter.«

      »War die Auftragslage so schlecht …?«

      »Ach was. Die Auftragslage war ausgezeichnet. Es musste immer