Gewährenlassen und Einräumen bezeichnen Prozesse im Verfertigen von Texten, von Kunst. Diese Prozesse benötigen eine lebendige und zugleich hochartifizielle Energie und Aufmerksamkeit. Sie setzen eine Selbsttechnologie der Schreibenden voraus, eine besondere künstlerische techné (im Sinn von Aristoteles) und Ethik des Schreibens.
Gegenwart lässt sich nicht direkt ansteuern, wir würden sonst nur beim Identischen landen. Gegenwart lässt sich nur indirekt und in der Wiederholung ansteuern, als Gefüge-Figur, im Zitat oder als Altes Gedicht.
( 5 ) Spuren des Tragischen: Einige Beispiele
Das erste Beispiel sind filmische Notizen von Pier Paolo Pasolini für eine Orestie in Afrika. 1970 war Pasolini am Victoriasee in Ostafrika auf der Suche nach den Figuren Agamemnon, Orest, Elektra, dem Chor und den Eumeniden.1 Der Chor in Tansania: eine Frau, ein kleiner Junge auf einem Boot, das den See überquert, mit den Arbeitern unterwegs zum Markt in Kigona. Dort die Träger, die Bauern, die Jungen, die Gören, die Neugierigen, ein junger eleganter Mann, näher. „Ich vergesse nicht die Schule und nicht die Geburt der Modernität in Afrika“, sagt Pasolinis Stimme im Film. Man sieht die Fabriken mit Arbeitern und Mädchen, die sie in Strömen verlassen (sie lachen). Das Feld der Lektüren, das Lernen. Den Krieg (Archivbilder aus dem Biafra-Krieg: die Zerstörungen, der Schmerz), ein abstrakter Krieg, der den Krieg um Troja aktualisiert: von „brennender Aktualität“. Das „Lager der Griechen“: Tansanianische Soldaten trainieren unter Befehl. „Die Furien sind bei Euripides dazu bestimmt zu verschwinden“ sagt Pasolinis Stimme im Film, während die Kamera monströse Formen der Natur einfängt, einen verendeten Tiger, diese „Welt der Vorfahren“, die tiefe Stille der Landschaft. Das Bewusstsein für die Prävalenz der Umgebung, des Ortes, des Landes in diesen filmischen Notizen ist außerordentlich.
Bei Gilles Deleuze heißt es in Das Denken und das Kino sinngemäß: „Es geht darum, nicht an eine andere Welt zu glauben, sondern an das Band zwischen Menschen und Welt. Dieses Band ist zerrissen, folglich muss es zu einem Gegenstand des Glaubens werden.“2 Das moderne Kino (hier mit Bezug auf Godard) filmt nicht die Welt, „sondern den Glauben an die Welt, unser einziges Band“,3 das kinematographisch auf das Engste mit der Prävalenz von Körpern in einer Situation, in einer Umgebung verwoben ist.
Indem sich der Filmer diesem Glauben für einen Moment lang leiht (ein Kinobild lang, auf das ein weiteres Kinobild folgt) oder, verallgemeinert, indem wir uns diesem Glauben für einen Moment lang leihen, geraten die Dinge ganz leicht tragisch. Das heißt, sie geraten auf leichte Weise und leicht tragisch. Das Tragische ist nicht der bedeutungsvolle, schwere Abgrund, der sich auf irgendein dunkles, schicksalhaftes Off hin öffnet. Es ist überhaupt kein Off, sondern hier, ein Außen im Außen.
Sich dem Glauben leihen heißt, nicht selbst glauben zu müssen. Dieses Prinzip der Ausleihe hat Pasolini als Mischung der Stile bezeichnet und als künstlerisches Verfahren anlässlich seiner Verfilmung des Matthäus-Evangeliums 1964 konkret beschrieben: Er als Filmautor, Atheist und Marxist sieht durch die Augen eines Gläubigen die Welt als Spiegel eines äußeren Unendlichen. Damit würde einerseits die Handlung also durch seine eigenen Augen gesehen, andererseits durch die Augen eines Gläubigen.4 Durch dieses doppelte, indirekte Sehen verbleibe er „immer im Bereich der Wirklichkeit“, ohne sie durch ein symbolisches System zu unterbrechen. Gewendet auf die Bedingungen der Rede bezeichnet Pasolini diesen Vorgang als „die freie indirekte subjektive Rede“,5 die für ihn ein durchgehendes Thema seiner kinematographischen Reflexionen bildet. Es ist die Technik des Palimpsestierens, die Technik der doppelten Folie, des doppelten Sehens, die indirekt auch das Zwischenzwei transportiert, den Abstand und die Öffnung. Diese Öffnung berührt uns leicht, im Doppelsinn der Formulierung, was jedoch nicht heißen muss, dass diese Berührung in jedem Fall ohne Tränen auskommt.
Ein anderes Beispiel sind Figuren bei Tino Sehgal, hier Ann Lee, eine performative Skulptur, die in vielen verschiedenen Zusammenhängen installiert wurde.6 Die BesucherInnen werden in einem Raum von einem Mädchen begrüßt, vielleicht 12 oder 14 Jahre alt, das die Neuankömmlinge anschaut. Mit leiser Stimme und den gedehnten Bewegungen einer Somnambulen stellt es sich vor: Es sei zunächst die zweidimensionale Manga-Figur Ann Lee gewesen, dann drei- und schließlich vierdimensional: „I wanted to be individual, embodied, incorporated“, sagt Ann Lee, „I like that word, don“t you?“ Im weiteren Verlauf möchte sie zum Beispiel wissen: „What is about the relationship between art and melancholia?“ Oder sie fragt eine Besucherin, ob diese „too busy“ oder „too less busy“ oder warum sie so erschöpft sei. Dann tritt eine zweite Ann Lee ein… Die Darstellerinnen stehen nah vor uns und erscheinen zugleich unerreichbar fern. Sie zeigen keinerlei Form von seelischer Resonanz auf das, was um sie und uns herum geschieht. Sie sind sehr jung, ihre langen Haare, ihre Haut sind perfekt. Ihre schöne Gestalt ist das Bild, das sie sind. Der Soll-Zustand (de jure) ist das Bild, der Körper ist der Ist-Zustand (de facto). Mit beiden verhält es sich wie im kinematographischen Verfahren Pasolinis: Sie werden doppelt oder indirekt übereinandergelegt, ohne diese beiden Zustände durch ein sprachliches oder symbolisches System zu unterbrechen.7
Irgendetwas ist anders an diesen Figuren, die sich als Gesichter unserer Zeit zeigen, aber auch als Produkte der Kollektivkräfte unserer Zeit, der Medien und Industrie. Indem sie ständig zwischen Pose und Körper, zwischen Virtualität und Leib oszillieren, agieren sie indirekt und frei zugleich. Zweifellos handelt sich es um Wiedergänger im Verhaltenscodex der Unnahbarkeit (Coolness): Urbane Kriegerinnen, Models, ferngesteuert und wirklich zugleich. Hinzu kommt die Transparenz aller Vorgänge: Die Darstellerinnen kommen und gehen, aber In-situ haben sie einen Ort des Rückzugs. Weder für sie noch für die Besucher gibt es ein Off.
Diese Figuren wollen gesehen werden. Sie fangen Blicke ein. Jede Pose, jede Frage gleicht einem Zitat, und dieses Zitat muss als konstitutiv für die Wirklichkeit angesehen werden. Die Darstellerinnen sind Bilder, denen sie ihre Körper leihen, die sofort wieder zu neuen Bildern führen. Sie sind daher nicht bloßes Zitat, sondern Prozess. Unwillkürlich werden sie als Motiv anerkannt (vielleicht auch aus diesem Grund darf bei Sehgal nicht fotografiert werden). Die Figuren bei Sehgal zeigen, dass das Konzept des „Models“ der Modulation nahesteht. Die Beziehung zwischen Referent (Gegenstand) und Signifikat (Bild) unterscheidet nicht mehr zwei unterschiedliche Ebenen oder Niveaus. Referenten sind zu Bildeinheiten (Manga) geworden, während die bewegten Signifikate, die Körper der Darstellerinnen Ann Lee zu einer Realität werden, die durch ihre Bilder hindurch „spricht.“
Das ist die Technik des Palimpsestierens, je nachdem ob man es auf das Ganze hin betrachtet (wie im Fall der afrikanischen Orestie von Pasolini) oder auf Figuren hin, die sich aus unterschiedlichen Bildarten zusammensetzen (wie bei Sehgal), kann für die Technik des Palimpsestierens festgehalten werden: Ihre Prozesse des Überprägens oder Durchprägens spielen nicht in den Kategorien von erster und zweiter Stufe, von Original und Kopie, von Referent und Signifikat. Diese Beziehung tritt zugunsten des In-situ eines gemeinsam geteilten Stellplatzes zurück. Dieser Stellplatz ist nicht gegeben, sondern ebenfalls hergestellt und konstruiert. Indem sich die künstlerische Aufmerksamkeit auf die Untersuchung dieser vorgängigen Bedingung stützt, tritt anstelle der Referentialität die Modulation in das Spiel ein, das den Spielenden nicht zugehört, sondern das durch sie lediglich zur Darstellung gelangt.
Inmitten von Satyrn, Boten und lebenden Toten
Tragische Figurationen der Durchquerung
Silke Felber (Universität Wien)
Das Tragische beschreibt eine Spielfläche des Dialektischen,