Wiederkehr des Tragischen?
Der dritte Abschnitt wird von Annika Rink eingeleitet, die im Rekurs auf aktuelle, dem Exzess frönende Tragödien-Projekte von Karin Beier, Jan Fabre und Ullrich Rasche von einer Potenz des Tragischen spricht und dabei sehr plastisch beschreibt, wie sich der damit einhergehende Modus der Überschreitung explizit gestaltet. Sebastian Kirsch widmet sich dem wohlbekannt in Aristoteles’ Poetik eingeführten Begriff der Katharsis und denkt diesen mit der Foucaultschen Sorgetechnik zusammen. Ausgehend von der Frage, wer sich denn wovon reinige und welche hygienischen Implikationen die Katharsis mit sich bringe, eröffnet Kirsch die mannigfaltigen medizinischen, moralischen, rituell-sakralen und wirkungsästhetischen Dimensionen dieses tragischen Schlüsselterminus. Lutz Ellrich geht mit Jean-Luc Nancy von der Hypothese aus, dass der Tragödienbegriff längst einer Trivialisierung zum Opfer gefallen ist. Seine Spurensuche im Gegenwartstheater führt Ellrich zu der Einsicht, dass Tragik im Gegenwartstheater schlicht abwesend oder aber „weg-inszeniert“ sei. Gleich zwei Beiträge dieses Bandes befassen sich mit dem Schaffen des Schweizer Theatermachers Milo Rau. Stella Lange konzentriert sich auf Raus Produktion Empire, die 2016 zur Uraufführung gebracht worden ist. Unter Berücksichtigung des medialen Framings und der unterschiedlichen Sprechinstanzen, die in der Inszenierung zur Anwendung kommen, geht sie auf den Begriff der Zäsur ein, den sie mit der Medea-Figur verknüpft und vor allem in der Kombination von Videosequenzen und Spiel ausmacht. Asmus Trautschs Untersuchung wiederum berücksichtigt sämtliche bislang entstandene Arbeiten Milo Raus. In seinem Beitrag setzt er die Spuren des Tragischen, die er in Raus Werken ausmacht, in Bezug zu heutigen Implikationen des globalen Kapitalismus und stellt daran anschließend Fragen nach Handlungsfähigkeit, Schuld und Mitleid. Beschlossen wird der Band von einem Beitrag David Krychs, der die Theatergeschichtsschreibung und deren gängige Narrative im Rückgriff auf einen äußerst humorvollen Zugang einer kritischen Revision unterzieht. Auf der Suche nach einem Ursprungsnarrativ der Theaterwissenschaft geht Krych von historischen Zeugnissen aus und stellt Fragen zum Verhältnis von Anthropologie und Historiographie sowie von Tragischem und Alltagsrealität.
Als Herausgeberinnen hoffen wir, mit diesem Band Impulse für zahlreiche weiterführende wissenschaftliche und künstlerische Auseinandersetzungen mit dem Tragischen zu geben und wünschen all unseren Leser*innen eine inspirierende Lektüre.
Wien, Sommer 2020 Silke Felber und Wera Hippesroither
Figurationen des Tragischen
Palimpseste für ein Theater der Gegenwart
Ulrike Haß (Universität Bochum)
Da Beschreibmaterialien, entweder das Pergament aus Tierhäuten oder Papyrus aus dem getrockneten und gepressten Mark von Pflanzenstengeln, im Mittelalter sehr kostbar waren, wurden sie mehrfach verwendet. Dafür wurde das Geschriebene abgekratzt oder abgewaschen. Als Tintenkiller kam auch Zitronensäure zum Einsatz. Dabei blieben jedoch Spuren der antiken oder frühmittelalterlichen Originaltexte erhalten, die man sehr viel später wieder sichtbar zu machen versuchte. Im frühen 20. Jahrhundert wurde der Priester Erich Dold aus der Erzabtei Beuron zu einem der ersten Fachleute für die Sichtbarmachung gelöschter Schriften auf Pergament. Er entwickelte die sogenannte Fluoreszenzfotografie weiter, ein Verfahren, bei dem das Material elektronisch angeregt wird, für kurze Zeit zu fluoreszieren, also Licht abzugeben.
Doch der Begriff des Palimpsests steht nicht nur für die vormalige Schrift unter einer Schrift, er steht auch für den Vorgang des Palimpsestierens, des Wiederbeschreibens. Er gilt sowohl für das Überprägen alter Strukturen als auch für das Durchprägen vormaliger Strukturen in einer Gegenwart. Der Vorgang selbst gilt, das ist sein nächstes Merkmal, für Oberflächenphänomene wie Papier, Häute oder Stoffe. Unter dem Aspekt des Palimpsests geraten diese Oberflächen zu doppel- oder mehrbödigen Räumen. Prägevorgänge bezeichnen auch in der Biologie, Psychologie und den Sozialwissenschaften Oberflächenphänomene, zu denen so verschiedene Objekte und Bereiche wie Umwelteinflüsse oder individuelles Verhalten oder die reversible Prägung beziehungsweise die reversible Modifikation der DNA gezählt werden.
Überprägen oder Durchprägen – in beiderlei Richtungen zeigt uns der Begriff des Palimpsests an, dass es sich bei den Oberflächen, auf denen etwas zur Erscheinung gelangt, nicht um trennscharfe Grenzen im Sinne von Entweder-Oder-Strukturen handelt. Diese Oberflächen trennen keine Vergangenheit von einer Gegenwart ab, kein Außen vom Innen, kein Vormaliges vom Hier und Jetzt. Der Begriff des Palimpsests sagt uns, dass es sich bei Oberflächen um Übergangzonen handelt, um mehrbödige und ausgedehnte Objekte, die summarisch und in einer anderen Sprache auch res extensa genannt wurden.
Wir müssen den Begriff der Oberfläche absolut ernst nehmen. Er wird für die Modernen sukzessive bedeutsam, die ihn auf Räume ohne die Dimension der Tiefe beziehen, auf Äußerliches ohne Innerlichkeit oder auch auf eine Weltweite, deren Draußen weltimmanent wird. Der Begriff der Oberfläche ist entsprechend weit zu fassen. Er bezieht sich auf die Sphäre, in der Sichtbares genauso gut wie Akustisches, Sprachliches, Gedankliches, Emotionales und Affektives hervortritt. Der Begriff der Oberfläche, dem kein Gegenbegriff eines Inneren mehr zugeordnet werden kann, ist über diese Äußerungsmaterialien hinaus auf Personen und Dinge ganz allgemein zu beziehen. Unter dem Aspekt der Oberfläche werden Personen und Dinge in ihren horizontalen Verflechtungen wahrnehmbar. Das Prinzip ihrer Situierung tritt hervor, ihr Vorhandensein in Um- und Mitwelten, ihre Einbettung. Damit ist ein In-situ-Prinzip angesprochen: in situ heißt In-Situationen-(zu)-Sein. Dieses situative Verständnis setzt sich heute, beziehungsweise in der Moderne an die Stelle eines vormaligen In-der-Welt-Seins, das sich letztendlich auf die Idee der Selbstermächtigung des Menschen inmitten einer Welt stützt, die ihm zur eigenen Einrichtung und Selbstverwirklichung überlassen ist – wie dies mit paradigmatischem Gewicht Pico della Mirandolas Schrift Oratio de dignitate hominis im ausgehenden fünfzehnten Jahrhundert festhält.1
Demgegenüber akzentuiert das In situ nicht das Machen und Verwirklichen, sondern eher ein passives Sich-einbezogen-empfinden und die Empfindung einer situativen Einbettung, sei diese nun gut oder schlecht.2 Das In situ begrenzt das aktive Erzeugen auf ein vages Miterzeugen dieser Situation. Wir können nicht anders als Gelebte leben, als Gewusste wissen, als Gesprochene sprechen usw. Stets bezieht sich unsere Rede auf ein Vorgesprochenes, auf ein Vorgelautetes, auf ein Vorgedachtes und ist in dieser Weise nicht als erzeugende, sondern nur als mitzeugende Rede denkbar. Und nur als solche Mitzeugenden kommen wir vor, konkret und singulär, und dehnen uns aus.3
Heiner Müller hat dieses Grundverhältnis, das in einer, sagen wir post-utopischen und global komprimierten Welt (die er scharf gesehen hat) als Selbstwahrnehmung und Empfindung des Eingebettet-seins immer expliziter wird, in einem späten Gedicht formuliert. In seiner absolut strengen Einfachheit gehört dieses kleine, sechszeilige Gedicht mit dem Titel Altes Gedicht einem Genre an, das sich mit der Bezeichnung „Gelegenheitsdichtung“ als originäres In-situ-Genre ausweist.
Altes Gedicht
Nachts beim Schwimmen über den See der Augenblick
Der dich in Frage stellt Es gibt keinen anderen mehr
Endlich die Wahrheit Daß du nur ein Zitat bist
Aus einem Buch das Du nicht geschrieben hast
Dagegen kannst Du lange anschreiben auf dem
Ausbleichenden Farbband Der Text schlägt durch4
Das Gedicht spricht vom Mitwissen eines vorgängigen Textes: Der Dichter, sein Schreiben, alles nur ein Palimpsest. Der vorgängige Text bricht in die Gegenwart des Gedichts ein, das sich in diesem Moment abbricht, ohne jedoch aufzuhören. Dieses sich in die Unscheinbarkeit zurückziehende Gedicht dehnt sich im Moment des Abbruchs. Es macht Platz, es gibt Raum, es