Spuren des Tragischen im Theater der Gegenwart. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Группа авторов
Издательство: Bookwire
Серия: Forum Modernes Theater
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783823302438
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      Silke Felber / Wera Hippesroither

      Spuren des Tragischen im Theater der Gegenwart

      Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

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      Umschlagabbildung: Orestea (una commedia organica?), Romeo Castellucci / Socìetas Raffaello Sanzio, 2015 © Guido Mencari

      © 2020 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

      Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

      www.narr.de[email protected]

      Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

      ISBN 978-3-8233-8436-6 (Print)

      ISBN 978-3-8233-0243-8 (ePub)

      Einleitung

      Silke Felber (Universität Wien), Wera Hippesroither (Universität Wien)

      Spätestens seitdem Weltgesundheits- und Wirtschaftskrisen, Terrorbekämpfung, Massenflucht und Migration gravierende globale Herausforderungen darstellen, erweist sich die von der Theaterwissenschaft bereits seit geraumer Zeit postulierte Wiederkehr des Tragischen im Theater der Gegenwart1 als unübersehbar. Die inflationäre Bezugnahme auf Aischylos, Sophokles und Euripides mag auf den ersten Blick erstaunen, tatsächlich aber verweist sie auf ein wiederkehrendes Phänomen. Folgt man Walter Benjamin, so erfreuen sich Tragödienbearbeitungen insbesondere in „Zeiten des Verfalls“2 großer Beliebtheit. Ebenjenem Verfall scheint auch die dramaturgische Partikularität der Fragmentiertheit geschuldet, die wir angesichts der gegenwärtigen produktiven Rückgriffe auf das Tragische ausmachen können. So zeichnen sich aktuelle Befragungen des Tragischen tendenziell durch einen zersetzenden oder aber schichtenden Umgang mit den antiken Referenztexten aus. Die alten Texte werden überschrieben, gesampelt, mit anderen sogenannten „Klassikern“ quergelesen oder aber radikal verdichtet. Zu denken wäre in diesem Zusammenhang etwa an Arbeiten von Volker Braun (Demos. Die Griechen. Die Putzfrauen, 2015), Anne Carson (Antigonick, 2012), Elfriede Jelinek (Am Königsweg, 2017 und jüngst Schwarzwasser, 2020), Ewald Palmetshofer (die unverheiratete, 2014), Yael Ronen (Antigone, 2007), Roland Schimmelpfennig (Die Bakchen, 2016) oder Lot Vekemans (Zus van, 2005). Zudem stechen Stückentwicklungsprozesse ins Auge, die sich aus der kombinierenden Befragung unterschiedlicher (historischer) Tragödienbearbeitungen konstituieren, wie es etwa Produktionen von Felicitas Brucker (Ödipus, 2015), Romeo Castellucci (Ödipus der Tyrann, 2015), Jan Fabre (Mount Olympus, 2015), Stephan Kimmig (Ödipus Stadt, 2012), Martin Kušej und Albert Ostermaier (Phädras Nacht, 2017), Ersan Mondtag (Iphigenie, 2016), René Pollesch (Bühne frei für Mick Levcik!, 2016) oder ZinA Choi (Iphigenia in Exile, 2016) tun.

      Wie aber wird das Tragische aktuell in den Aufführungskünsten erfahrbar gemacht? Welche ästhetischen Verfahren und künstlerischen Praktiken kommen dabei zum Einsatz? Wie verhalten sich gegenwärtige Tragödien-Befragungen zum „Gestus einer allegorischen Zertrümmerung des antiken Vorbilds“,3 der den Tragödienfragmenten Hölderlins, Kleists und Büchners eingeschrieben ist? Wie gehen das Theater und die dafür entstehenden Texte in der Nachfolge Einar Schleefs ganz aktuell mit der „verschütteten Geschichte des Chors“4 um und welche Rückschlüsse lassen sich daraus hinsichtlich eines Denkens von Gemeinschaft und Individuum ableiten? Wie wirkt sich die gegenseitige Einflussnahme von performativer Praxis und philosophischer Theorie in Hinblick auf den Tragödienbegriff aus? Eignet sich der Terminus des Postdramatischen noch für die Beschreibung gegenwärtiger künstlerischer Auseinandersetzungen mit dem Tragischen?

      Die hier skizzierten Überlegungen bildeten den Ausgangspunkt einer interdisziplinär angelegten Tagung, die Expert*innen und Nachwuchswissenschafter*innen aus den Bereichen der Theater- und Tanzwissenschaften, der Literaturwissenschaften und der Philosophie im Herbst 2017 in Wien versammelte. Die Veranstaltung war Teil des FWF-Projekts Dramaturgies of the (Dis-)Continuative und wurde in Kooperation mit dem Forschungszentrum S:PAM (Studies in Performing Arts and Media) der Universität Gent, dem Künstlerhaus Wien und dem Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien ausgetragen. Ausgewählte Beiträge dieser Tagung sind in diesem Band enthalten.

      Figurationen des Tragischen

      Die erste Gruppe der Beiträge wird von Ulrike Haß eröffnet, die sich dem Begriff des Palimpsests widmet und die Technik des Überprägens in Zusammenhang mit mehrbödigen Oberflächen und Stellplätzen bringt, um sich dem Prinzip des In-Situ zu nähern. Ausgehend von Trägodien-Definitionen von Hegel über Aristoteles bis Heiner Müller macht Haß Spuren des Tragischen bei Pier Paolo Pasolini und Tino Sehgal aus. Silke Felber befasst sich in ihrem Beitrag mit tragischen Figurationen der Durchquerung. Sie stützt sich hierfür nicht nur auf Tragödientexte und Satyrspiele, sondern konsultiert darüber hinaus auch antike Vasenmalereien. Ausgehend von diesem Material untersucht sie das Nachleben von Satyrn, Boten und im Limbus der Unentschiedenheit weilenden Schutzsuchenden in Elfriede Jelineks Tragödienfortschreibungen. Der Topos der Schutzsuche steht auch im Zentrum der Beiträge von Patrick Primavesi und Bernhard Greiner. So nähert sich Patrick Primavesi mit den Schutzflehenden des Aischylos einer tendenziell wenig rezipierten, unter dem Eindruck der Flucht- und Migrationsdebatte aber aktuell intensiv bearbeiteten bzw. viel gespielten Tragödie. Im Zentrum seiner Ausführungen stehen Jelineks Die Schutzbefohlenen und Einar Schleefs 1986 uraufgeführte Produktion Mütter, die Aischylos’ Sieben gegen Theben und Euripides’ Die Bittflehenden miteinander verknüpft. Auch Bernhard Greiner widmet sich Aischylos‘ Tragödienfragment Die Schutzflehenden und dessen Jelinekscher Fortschreibung. Mit Heidegger als Ausgangspunkt und unter besonderer Berücksichtigung der chorischen Passagen geht er zunächst auf die in Jelineks Text wesentliche Kategorie des „Da-Seins“ ein, um dann die philologischen Hintergründe der um Schutz flehenden, diffusen Sprechinstanz der Schutzflehenden zu erläutern. Den Abschluss des Kapitels bildet der Beitrag von Inge Arteel, die sich mit Susanne Kennedys und Markus Selgs multimedialer Installation Medea.Matrix befasst. Arteels Analyse konzentriert sich auf das Verhältnis von Einzelfigur und Gruppe und zeigt in beeindruckender Weise, wie Kennedy und Selg die gewaltvolle Verstoßung Medeas mit Konflikten um Prokreation, Sexualität, den weiblichen Körper und christliches, genealogisches Denken engführen.

      Antigones Nachleben

      Die Aufsätze des zweiten Abschnitts reagieren auf ein auffallend großes Interesse, das der Figur der Antigone gegenwärtig von Theater- und Tanzschaffenden, aber auch von Philosoph*innen entgegengebracht wird. Den Auftakt macht ein Beitrag von Freddie Rokem, der sich ausführlich mit der mythologischen, von der Antigone-Forschung bislang wenig beachteten Figur der Niobe befasst und äußerst wertvolle Ansätze für weiterführende Untersuchungen liefert. Nicole Haitzinger und Julia Ostwald widmen sich der Figur der Antigone Sr. in Trajal Harrells Twenty Looks or Paris is Burning at the Judson Church. Die Autorinnen führen den Begriff des kreolisierten Tragischen ein und erläutern anhand einer Bewegungsanalyse, wie Spuren der Sophokleischen Tragödie in einem zeitgenössischen Kontext mit amerikanischer Kolonialgeschichte, Voguing und Postmodern Dance verknüpft werden. Wera Hippesroither geht von Jette Steckels Burgtheater-Inszenierung (2015) aus und erläutert anhand der räumlichen Gestaltung der Inszenierung, warum Antigone weit mehr ist als die antagonistische Figur, als die sie bislang gemeinhin aufgefasst worden ist. Der Begriff des Staubs dient Hippesroither dabei als Ausgangspunkt einer Argumentation für eine ortlose Antigone fernab von Dichotomien. Artur Pełka liest Janusz Głowackis Antigone in New York (1992) mit Slavoj Žižeks Die drei Leben der Antigone (2015) sowie Darja Stockers Nirgends in Friede. Antigone (2016) gegen, um unter Berücksichtigung einer politischen und genderspezifischen Perspektive Strategien zu skizzieren, die es ermöglichen, den Mythos ins Gegenwartstheater