Soviel einleitend zum Palimpsest-Begriff, der hier, im Unterschied zu seiner eher metaphorischen Verwendung als Bezeichnung für eine generell vorliegende Intertextualität von Texten, als Raumbegriff akzentuiert wird.6 Eher als linguistische Verfahren interessieren uns hier solche, die mit dem schwachen Verb „prägen“ verknüpft sind und als Prägeverfahren zwingend mit den Begriffen Oberfläche und Außen zusammenhängen. Als ein solcher Raumbegriff erscheint das Palimpsest in besonderem Maße für unsere Gegenwart geeignet, für die in unterschiedlichen Zusammenhängen die Rede vom „Weltinnenraum“7 geltend gemacht wird. Damit wird eine Immanenz thematisiert, die sich einer weltweiten Nivellierung aller vertikalen Gliederungen verdankt, in der sich alles vormals Äußere nach innen gezogen hat, sodass es – je nachdem – nur noch ein einziges großes Innen gibt oder nur noch das Außen einer globalisierten Synchronwelt. In jedem Fall haben Innen und Außen aufgehört, einander zu bedingen und zu definieren (eine moderne Entwicklung, die schon im Barock einsetzt). Anstelle der althergebrachten Gliederung von Innen und Außen realisieren heute globale Verkehrsströme von Nachrichten, Daten, Personen, Waren und Kapital eine Welt ohne „Hienieden“ und „Jenseits“, also keine Welt mehr, wie wir sie kannten. Bezüglich dieser sich nur noch oberflächlich dehnenden Sache, die früher mal die Welt war (und diese Entwicklung ist keine neue und datiert auch nicht erst seit gestern), ist immer wieder die Frage aufgeworfen worden, ob die Tragödie in ihr noch eine Chance hat oder warum sie vielleicht keine Chance mehr hat und abgeschlossen im Geschichtsgrau der griechischen Antike versiegelt liegt, einem Museumsfundstück vergleichbar, das auf seine Präparatoren wartet.
In Bezug auf diese Frage möchte ich mich zunächst mit zwei prominenten Lesarten der Tragödie auseinandersetzen: Zum einen mit dem Modell des unversöhnlichen tragischen Konflikts, das durch Hegel motiviert wurde, zum anderen mit dem Modell einer schicksalhaften Fügung, die sich auf Aristoteles‘ Poetik beruft. In meiner Auseinandersetzung mit diesen beiden Tragödienmodellen möchte ich Lesarten nahelegen, die das Potential des Tragischen anders situieren und für unsere Gegenwart annehmbar werden lassen. Die Voraussetzung dafür ist nicht so sehr der Streit mit dem Common Sense der Tragödientheorien, wie Wolfram Ette meint (natürlich muss man zurück zu den Sachen, zu den Stücken). Aber der Streit, der zu führen wäre, betrifft eher einen Begriff der Geschichte. Und auch hier will ich meine These noch kurz vorausschicken: Der uns geläufige Begriff von Geschichte ist im Horizont der Hominisierung entstanden und mit dem Anthropozentrismus liiert bis hin zu den sich im weltgeschichtlichen Rahmen gegenseitig entdeckenden Völkern, genannt „Menschheit“. Anstelle einer solchen Geschichte, die mit ihren Botschaften und Sinnversprechen für eine jeweils „menschlichere Zukunft“ einstehen sollte, ist heute vom Ende dieser Geschichte auszugehen. Dies betrifft zunächst und ganz zentral die menschlichen Existenzen in ihrer Sinnhaftigkeit. Sie bekommen keinen Sinn mehr (göttlich) verliehen und sie verfügen über keinen Sinn mehr, der ihnen so lange und zuletzt auch ersatzweise durch das geschichtliche Projekt zugewachsen ist. Und dennoch gibt es einen Anspruch auf Sinn, weiterhin. Die menschlichen Existenzen, diese kleinsten Vitalsplitter, die unsere Leben darstellen, sind nicht ohne Anspruch auf Sinn. Davon spricht Jean-Luc Nancy, der festhält, dass „dieser Anspruch […] für sich allein bereits der Sinn [ist],mit all seiner Kraft zum Aufstand“.8
Es ist diese Lage, keinen Sinn zu haben und keinen Sinn mehr (geschichtlich) zu erzeugen, die wir mit den antiken Tragikern bis heute unvermindert teilen. Deshalb hat uns die Tragödie heute etwas zu sagen und ist tauglich auch für unsere Gegenwart.
( 1 ) Hegel
Auf Hegel, der Sophokles’ Antigone bekanntlich als vollkommenste Tragödie schätzte, geht die Auffassung zurück, dass die Tragödie wesentlich auf der Kollision zweier Positionen beruht, die beide, für sich genommen, gleiche Berechtigung haben. Aufgrund ihres Gegensatzes kann sich jeweils eine Macht, die Hegel wahlweise auch Charakter oder Individuum nennt, jedoch nur als „Negation und Verletzung der anderen, gleichberechtigten Macht“ durchsetzen und gerät deshalb „in ihrer Sittlichkeit und durch dieselbe ebensosehr in Schuld“.1 Es geht also um einen symmetrischen Konflikt entgegengesetzter, jedoch gleichberechtigter Kräfte. Gelöst werden kann ein solcher Konflikt nicht. Dennoch muss er, wie Hegel sagt, „in dem für sich abgeschlossenen Werk [seine] Erledigung finden“,2 welche naturgemäß in eine „Endkatastrophe“3 mündet.
Im Fall von Antigone sieht diese Sache dann für ihn so aus: Antigone steht bei Hegel bekanntlich für das Prinzip der Familie und der Blutsverwandtschaft. Kreon hingegen steht für die staatliche Ordnung der Polis ein und für die „sittliche Welt“ ihrer Normen, die den Sozialkörper Polis kulturell lebensfähig machen sollen. Die Aporien dieser holzschnittartigen Konstruktion kollidierender Kräfte sind von vielen, zuletzt ausführlich von Judith Butler 2001 diskutiert worden. Ich fasse hier kurz zusammen. Mit der strengen Konfrontation von Blutsverwandtschaft versus Staatsraison wird das Prinzip der Verwandtschaft vom Bereich des Sozialen abgetrennt. Das Verwandtschaftsprinzip wird als Modus der Herstellung und Stiftung sozialer Beziehungen ausgeblendet. Unter dem Aspekt des Blutes wird es reduziert auf die Abstammung (Herkunft) oder die leibhafte Hervorbringung von Nachkommen und deren Aufzucht. Hegel, der nicht nur in der Ästhetik auf Antigone zu sprechen kommt, sondern auch in der Phänomenologie des Geistes und in seiner Philosophie des Rechts, fasst apodiktisch zusammen, dass Antigone für die Gesetze des Hauses stehe, während Kreon für die des Staates stehe. Erstere haben in der sittlichen Ordnung des Gemeinwesens keinen Platz, denn das Haus würde nur die „Einzelheit erhalten“ wollen, welche im Sinne einer ethischen, allgemeinen Ordnung jedoch unterdrückt werden müsse. „Das Gemeinwesen kann sich […] nur durch Unterdrückung dieses Geistes der Einzelheit erhalten“,4 heißt es. Da ein Gemeinwesen jedoch nun mal selbst keine Kinder zeugen kann, bleibe es vom „Geist der Einzelheit“ abhängig und stimuliere diesen fortwährend. Namentlich die Weiblichkeit als Vertreterin der Individualität und der Gesetze des Hauses bilde daher die berühmte „ewige Ironie des Gemeinwesens“. Der Gegensatz von Individuum und Staatsgesetz ist, so Hegel, „der höchste sittliche und darum der höchste tragische“ Gegensatz und dieser Gegensatz sei, jetzt setzt er noch eins drauf, „in der Weiblichkeit und Männlichkeit daselbst individualisiert“.5
Es fällt schon sehr schwer, in dieser systemtheoretischen Zuspitzung das Stück von Sophokles wiederzuerkennen. Hegel befasst sich zwar mit Antigones Tat, aber nicht mit ihrer Rede.6 Er stilisiert sie zu einer Repräsentationsfigur von Gesetzen, gleich Kreon. Aber schon an dieser Stelle bricht die Symmetrie ab, die Hegel zufolge die jeweilige „Negation und Verletzung der anderen, gleichberechtigten Macht“ verursache und damit das Herzstück der tragischen Kollision bilde. Bei Sophokles sind die Gesetze nicht gleich. Dies ist der Gegenstand von Antigones Rede vor Kreon: Dessen „Gesetz“ (V. 452) einerseits und „Gottgebote“ (V. 454) andererseits wiegen unterschiedlich viel. Ungleich schwerer wiegen für Antigone die ungeschriebenen, ewigen, göttlichen Gesetze, von denen man im Text kein weiteres Wort erfahren wird, da dieser Gesetzestypus als Nomos über keine schriftliche Gestalt verfügt. Also dehnt sich die Asymmetrie hier über das jeweilige Gewicht auch auf die Gestalt der Gesetze aus, die mit den Sphären von Schriftlichkeit und Vorschriftlichkeit korrespondiert. Dabei tauchen die namenlosen, alterslosen Gesetze Antigones stets im Plural auf, während Kreon das Gesetzt der Polis nicht nur im Singular, sondern darüber hinaus auch noch als „mein Gesetz“ (V. 449) bezeichnet. Doch dies nur am Rande.
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