Alle diese Ebenen werden von Aristoteles berücksichtigt, aber ich werde hier nicht versuchen, das nachzuzeichnen. Wesentlich ist, dass „die Tragödie nicht Nachahmung von Menschen [ist], sondern von Handlung“ (21).“ Daher sind die Geschehnisse (pragmata) und der Mythos das Ziel (telos) der Tragödie“ (ebd.). Der „Mythos [ist] eine Zusammenfügung von Geschehnissen“ (23).
Das heißt einfach, dass die Tragödie sich in Bezug auf den Mythos wie ein Palimpsest verhält. Die Tragödie hat keine Aktualität, keine Menschen zu ihrem Darstellungsziel, sondern den Mythos, der ungegliedert, massenhaft und stoffreich (Homer) vorliegt. Aristoteles vergleicht den Mythos mit den Farben der Malerei: Aber so wie es ja auch nicht gefällt, wenn ein Maler oder eine Malerin blindlings Farben aufträgt, heißt es, so benötigen auch Tragödiendichter die Umrisszeichnung, für die nun die Charaktere einstehen. Dabei ist jedoch nicht die Nachahmung der Charaktere ihr Ziel, „sondern um der Handlungen willen“ – und das heißt hier, um des Mythos willen – „beziehen sie Charaktere ein“ (21).
Erst nachdem Aristoteles den Mythos als telos der Darstellung bestimmt hat, geht er über zum 7. Kapitel, in dem er darlegt, „welche Beschaffenheit die Zusammenfügung der Geschehnisse haben muss“ (25), und erst hier erfolgt die Bestimmung, dass eine Tragödienhandlung ein „Ganzes ist, was Anfang, Mitte und Ende hat“ (25) wie ein „Lebewesen“ (25) – eben jene Bestimmung, die Wolfram Ette so gestört hat.
Aber nicht der Mythos ist eine Einheit oder Ganzheit, sondern die Schnitte, die sich der Tragödiendichter vom Mythos abschneidet, soll diese Eigenschaften aufweisen. Der Mythos ist wie die reine Farbe, ohne Anfang und Ende und ohne bestimmte Kontur, aber von a-signifikanter Leuchtkraft. Da aber „Handlungen nicht an beliebiger Stelle einsetzen noch an beliebiger Stelle enden“ können, heißt es im 7. Kapitel, müssen sie „gut zusammengefügt sein“ (25). Sie müssen anfangen und enden. Eben wie ein Lebewesen, dessen Anfang „nicht mit Notwendigkeit auf etwas anderes folgt“ (25), mit dessen Ende es sich jedoch „umgekehrt“ (25) verhält. Es ist, und zwar so oder so, „notwendigerweise oder in der Regel“ (25), sterblich. Die Sterblichkeit ist kein telos, sondern Bedingung von Lebewesen, mit denen es sich so verhält, dass „am Anfang schon feststeht, was am Ende herauskommen wird.“2 Die qualitative Verschiedenheit von Anfang und Ende verbietet es hier jedoch, einen „Kreislauf“ (Ette) anzunehmen. Es handelt sich nicht um etwas, das sich notwendig schließt (wie ein Kreis), sondern um etwas, dessen Anfang aus keiner Notwendigkeit heraus beginnt, während dessen Ende mit Notwendigkeit erfolgt. Dazwischen liegt eine Mitte, in der „natürlicherweise etwas anderes eintritt oder entsteht“ (25). Also nicht deshalb, weil sich das Lebewesen „von den Ursprüngen emanzipiert oder sich selbst verwirklichen will“, wie Ette als Befürworter einer „geschichtlichen, nicht-teleologischen Prozessform“3 meint. Bei Aristoteles, der nicht an die Geschichte glaubt, sondern die Bewegung (dynamis) als solche privilegiert, heißt es sehr viel einfacher und genauer, dass in der Mitte „etwas anderes eintritt oder entsteht“, was damit zusammenhängt, dass Lebewesen „aus etwas zusammengesetzt“ (25) sind (wie jeder andere zusammengesetzte Gegenstand auch).
Es ist also nicht die Geschlossenheit eines Ganzen, sondern im Gegenteil gerade dessen Eigenschaft, als Zusammengesetztes auch auseinandertreten zu können und sich zu teilen, sodass ein anderes Teil eintritt oder ein anderes entsteht. Aristoteles’ starkes Denken der Zusammenfügung erzwingt geradezu, das Ganze einer in sich geschlossenen Handlung – wir sind jetzt wieder bei der tragischen Fabel – uns nicht als etwas vorzustellen, das nichts außer sich hat, sondern ganz im Gegenteil als etwas, das stets noch anderes außer sich hat.4 Und nur so ist der Begriff des „Lebewesens“, der keine Metapher ist, auf die tragische Fabel zu beziehen.
( 4 ) Zusammenfassung und Thesen
Nehmen wir noch einmal die rasant knappe Definition der tragischen Fabel von Heiner Müller auf, denn sein Begriff vom „Stellplatz“ entspricht genau dem des Trägermaterials, das im Vorgang des Palimpsestierens wiederbeschrieben wird und die schon existierende Schrift damit zur vormaligen macht. Was auf diesem „Stellplatz“ zusammengestellt wird, ist widersprüchlich, besagt Müllers Definition. Aber diese Widersprüche schließen sich nicht aufgrund einer Negativität gegenseitig aus. Das wäre der zentrale Einwand gegen Hegel: Widersprüche unterscheiden sich, aber ihr Unterscheiden wurzelt keineswegs zwangsläufig in einer kontradiktorischen Negation, die das Verneinte ausschließt und zum „Nichtsein“ erklärt. (Das ist genau die Operation, die Hegel im Fall der ungeschriebenen Gesetze Antigones anwendet, indem er sie zitiert, aber übergeht.)1 Schon allein die Annahme eines gemeinsamen Stellplatzes verlangt eine andere Auffassung von Negativität, denn ein „Nichtsein“ könnte auf einem solchen Stellplatz schlichtweg nicht zur Erscheinung kommen. Unter dem Aspekt eines gemeinsamen Erscheinens verschiebt sich die Negation zwangläufig in den nicht-kontradiktorischen Unterschied von etwas und etwas anderem und ihre Konfiguration tritt hervor: Ihr Zusammengesetztes, Zusammengestelltes, ihr In-Situationen-Sein.
Das „Kon-“ der Figurationen besagt nun keineswegs, dass da irgendetwas miteinander geht. Im Gegenteil, und hier kommt der Aspekt des Palimpsests als Raumbegriff wieder ins Spiel: Das Überprägen oder Durchprägen vormaliger Strukturen sagt nichts über das Verhältnis aus, in dem das Vormalige zum gegenwärtigen Schreibakt steht, sondern nur, dass dies im Sinne eines Ko-Existentials der Fall ist. Da sich Schrift materialisiert und auf Trägermaterialien äußert, wird sie nicht nur tradierbar, sondern auch koexistent für alle möglichen anderen Schriften, auch für solche, die sich ihr auf demselben Trägermaterial überprägen. Mit anderen Worten: Jeder Schreibakt steht im Verhältnis zu vormaligen Schriften und tut dies als ein solcher vollkommen unabhängig von den Intentionen der Schreibenden oder den behandelten Thematiken. Erscheinen die Schriften jedoch auf einem gemeinsamen Stellplatz, der ihr Trägermaterial ist, dann entwickelt sich zwischen ihnen eine Dynamik des Überprägens oder Durchprägens.
Ganz ähnlich behandelt Aristoteles das Vormalige des Mythos im Verhältnis zur attischen Gegenwart der Tragödie. Aristoteles geht unmissverständlich davon aus, dass der Mythos „das Fundament und gewissermaßen die Seele der Tragödie ist“ (23). Das Vormalige des Mythos liegt nicht abgeschlossen in irgendeiner Vorkammer attischer Gegenwart, d. h. es gibt zu ihm kein geschichtliches Verhältnis. Daher hält Aristoteles fest, dass „es nicht Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist“ (29), das sollte man den Historikern überlassen. Der Dichter teile indessen mit, „was geschehen könnte“ (29). Es geht nun nicht darum, aus diesem Konjunktiv das Gebot der „Wahrscheinlichkeit“2 herauszulesen, wie das der Altphilologe und Übersetzer der hier verwendeten aristotelischen Poetik tut (während erst die Regelpoetik des Herrn d‘Aubignac im 17. Jahrhundert mit der Wahrscheinlichkeit als normatives poetisches Kriterium hausieren gehen wird). Vielmehr bezieht sich der aristotelische Konjunktiv „was geschehen könnte“ auf einen bestimmten Eigensinn der widersprüchlich gefügten Sache des Dichters. Dieser Eigensinn wird jedoch, und das ist hier meine Hauptthese, im Vorgang des Palimpsestierens gewonnen, das heißt, er tritt in diesem Vorgang überhaupt erst hervor und wird durch diesen Vorgang überhaupt erst ermöglicht. Die tragische Fabel gewinnt ihren Eigensinn im Vorgang der Überprägung von mythologischer Überlieferung bzw. indem sich das Überlieferte durch sie hindurchprägt. Insofern ist das Palimpsestieren als genuin dichterische Tätigkeit zu begreifen, die sich von der Nachbildung, der Nachahmung oder dem einfachen Plagiat unterscheidet, indem sie dem Eigensinn der widersprüchlich gefügten Sache, die ihre Sache ist, Raum gibt. Wenn das Palimpsestieren als künstlerisches Verfahren begriffen und als solches bewusst gehandhabt wird, geht das mit einigen Überzeugungen und Merkmalen einher, auf die hier kurz und unvollständig hingewiesen werden soll.
Das erste wäre wohl die Aufmerksamkeit dafür, dass Kunst nicht negativ gewonnen wird. Kunst wird nicht aus Abgrenzung, Widerspruch, Entgegensetzung oder Kritik gewonnen, sondern entsteht durch das Gewährenlassen oder Einräumen dessen, was ihren Eigensinn