Es ist August und recht heiß im Nordosten des Irans, der von Wüstenklima geprägt ist. Für uns bedeutet das, noch vor Sonnenaufgang aufzustehen und zu packen, mit dem ersten Tageslicht loszuradeln und über Mittag und den frühen Nachmittag drei Stunden Pause einzuplanen.
Heute beträgt die Vormittagsetappe 40 Kilometer, dann wollen wir in einem Dorf Mittagspause machen, unsere Wasserflaschen auffüllen, etwas essen und uns ausruhen. Auf der Karte entgeht mir bei der Tagesplanung ein kleines Detail: Bei unserem Pausenort handelt es sich um ein Geisterdorf.
Es ist Mittag, als wir ankommen, und das nächste Dorf ist weit weg, also pausieren wir einfach im wohltuenden Schatten einer der Ruinen. Gelebt hat hier schon lange niemand mehr, und gruselig finden wir es bei Tageslicht auch nicht. Das Hauptproblem ist vielmehr, dass wir mit einer Wasserquelle gerechnet hatten. Also fahren wir nach unserer Pause notgedrungen mit je einer letzten halbvollen Flasche pipiwarmen Wassers weiter. Von jetzt an wird nicht mehr gegessen, geraucht, durch die Nase geatmet und nur das Nötigste gesprochen. Plötzlich wirkt die Wüste viel trockener als zuvor. Die Strecke ist langweilig, und meine Gedanken driften ab. Das passiert häufiger auf öden Strecken. Oft analysiere ich Kindheitserlebnisse oder stelle mir Vorstellungsgespräche für einen tollen Job vor. Dabei radle ich von ganz allein um Schlaglöcher herum und achte auf Autos und Schilder.
In meinem heutigen Tagtraum erreichen wir eine Oase wie aus dem Bilderbuch, mit Palmen und einem Brunnen und bunten Vögeln und saftigen Wassermelonen. Als ich aus meinem Tagtraum aufschrecke, ist da wieder nur Wüste, so weit das Auge reicht, geteilt nur von der geteerten Linie, auf der wir uns befinden. Und dann am Horizont das Minarett einer Moschee. Moment! Wo eine Moschee ist, da waschen sich Leute, und wo man sich waschen kann, da gibt es Wasser! Wir kippen die letzten heißen Tropfen in die trockenen Kehlen, fegen die spontan auftauchende Sorge, es könnte sich um eine Fata Morgana handeln, einfach beiseite, geben noch einmal so richtig Gas und erreichen wirklich bald eine moderne »Oase« in Form eines Busbahnhofs. Hier gibt es Menschen, Läden und Wasser. Wir ruhen uns aus, essen und trinken und kaufen zwei gefrorene Flaschen Trinkwasser. Damit kann man sich die Haut kühlen oder andere Lebensmittel kühl halten, und das geschmolzene Wasser kann man nach und nach austrinken. Während wir so dasitzen und die Pause genießen, kommt ein junger Mann zu uns und drückt Roberto eine ganze Wassermelone in die Hand. Es sei ein Geschenk, er hoffe, sie schmeckt uns und überhaupt »Welcome to Iran!«. Einfach so. Nicht zum ersten Mal stelle ich mir vor, wie es wäre. würde jemand in Deutschland auf einen wildfremden Touristen zugehen, ihm eine Tüte Äpfel schenken, einfach nur so, und ihn auf Englisch im Land willkommen heißen. Wir bedanken uns vielmals, zücken das Taschenmesser und machen uns gleich ans Auffuttern. So eine frische Melone ist nämlich nicht nur super lecker, sondern auch ziemlich schwer und lässt sich, rund von außen und klebrig von innen, auch nicht ganz leicht auf dem Gepäckträger befestigen. Als wir uns mit klebrigen Mündern und runden Bäuchen vom edlen Spender verabschieden, bekommen wir gleich eine weitere Wassermelone aufgeladen, »für den langen Weg«. Widerrede zwecklos. Die Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft der Perser ist unübertroffen.
Wir transportieren die Wassermelone tatsächlich an einem Stück bis zu einer Moschee, neben der wir die Nacht im Freien verbringen, und am nächsten Tag bis zum Stadtpark von Semnan, wo sie mir vom Gepäckträger rutscht und platzt, während wir das Zelt aufstellen. Am folgenden Morgen, meinem Geburtstag, frühstücke ich die Hälfte, die die Ameisen mir übrig gelassen haben. Roberto verpasst das Frühstück, denn ihn hat die Polizei nach einer spontanen Passkontrolle mitgenommen. »Dauert nicht lang«, hieß es. Ich sitze da, warte tiefenentspannt, wundere mich über meine eigene Gelassenheit, und tatsächlich kommt er nach nicht einmal zwei Stunden wieder, verabschiedet sich freundschaftlich von den Polizisten und faltet einen Flyer zusammen, bis er in seine Hosentasche passt. »Ich glaube, die wollten einfach mal einen mexikanischen Pass durchblättern!«, flüstert er, als die Polizisten wieder im Auto sitzen. »Und das hier«, er deutet auf den Flyer »haben sie mir auf der Wache gegeben, nachdem sie meinen Pass ganz genau durchgesehen haben. Eine Anleitung für sicheres Reisen im Iran. Regel Nummer eins: Gib nie deinen Pass raus.«
Zoroastrische Ruinen in der Nähe von Yazd.
Ans Radeln mit Kopftuch gewöhne ich mich schnell.
Der Präsident im Baumwollfeld
Tag 362, Kilometer 6690, Turkmenistan
POSITIV Sehr komfortable Schlafwaggons im Zug NEGATIV Das Gefühl, verfolgt zu werden GELERNT Goldener Prunk und bunter Alltag liegen dicht beieinander
Turkmenistan ist das Nadelöhr der Reiseradler. Ein Großteil der Radler, der zwischen Asien und Europa unterwegs ist, radelt entweder über Kasachstan und Russland oder über Turkmenistan und Usbekistan. Das Transitvisum für Turkmenistan kostet für fünf Tage stolze 55 Dollar, und die kürzeste Strecke durchs Land beträgt knapp 500 Kilometer. Das ist ein sehr eng gesteckter Zeitrahmen, zumal die Straßen voller Schlaglöcher sind und der Wind von Osten kommt, aber es ist machbar. Sofern man nicht seinen ersten Visumstag mit Magenkrämpfen und Tropf auf der Arztliege im iranischen Grenzdorf verbringt, so wie Roberto.
Zwei Tage später geht es Roberto zum Glück gut genug, um aufrecht zu stehen und zu gehen, doch unser »Radelfenster« ist passé. Wir beschließen, das Land nun möglichst schnell mit öffentlichen Transportmitteln zu durchqueren. Da der Zug nach Mary erst in zwei Tagen wieder fährt und es keine Busse gibt, verladen wir die Räder in ein Taxi und werden gründlich durchgeschüttelt. Manche Schlaglöcher sind länger als unsere Räder. Ich sehe aus dem Fenster. Dort sind Büsche, Militärposten, lachende Menschen in enger bunter Kleidung mit passenden Schuhen und Haarbändern oder Kopftüchern. Dabei höre ich dem Paar auf den Vordersitzen zu. Die beiden reden und lachen laut. Ich verstehe einzelne Wortfetzen, da Turkmenisch und Türkisch einander ähneln. Auch die Beifahrerin ist kunterbunt gekleidet, in ihrem Mund glitzern mehrere Goldzähne, und sie wirft jedes Mal den Kopf in den Nacken und haut sich auf die Oberschenkel, wenn sie lacht. Erst jetzt wird mir klar, wie sehr ich diese offene Freude, die Unbeschwertheit und die vielen Farben im Iran vermisst habe. Ich selbst trage wieder ein kurzärmliges Shirt, aber habe mich über anderthalb Monate an das Kopftuch so gewöhnt, dass ich ein paar Tage brauche, bis ich mich auch ohne wieder wohlfühle.
Da Roberto sich etwas besser fühlt, beschließen wir, das Beste aus unserer Lage zu machen und uns umzusehen. Das Zentrum der Stadt besteht aus Dutzenden von überdimensionierten Gebäuden. An vielen prangt ein Bild des Präsidenten. Überall glänzen bunte Kuppeln, weiße Wände reflektieren die Mittagssonne, und ich kann die Augen kaum offen halten, so sehr blendet mich das Licht. Kein Körnchen Staub ist in Sicht, alles ist so neu, so exakt, so irreal, fast wie eine prunkvolle Filmkulisse. Es dauert eine Weile, bis mir klar wird, was das Ganze so künstlich wirken lässt. Es ist die Abwesenheit von Menschen. Man sieht sie weder in der nagelneuen Moschee noch auf der Straße oder in der Bibliothek. Ein Geisterviertel mitten in der Stadt?
Im Mary Museum schließen wir uns einer geführten Tour an. Doch bevor wir den Teil erreichen, in dem wir von Land und Leuten, Geschichte und Kultur, aber auch von Seide erfahren, werden wir in die sogenannte Halle der Renaissance geführt. Diesen Raum dominieren Bilder des Präsidenten Turkmenistans. Unser Museumsführer Yakub deutet auf eines: »Schauen Sie, hier steht unser Präsident gemeinsam mit den Erntehelfern in einem Baumwollfeld.« Während er die Bedeutung von Baumwolle für die Kultur Turkmenistans erläutert, schaue ich mir das Bild genau an. Mein Blick wandert durch den Raum. Der Präsident bei einem traditionellen Tanz. Der Präsident lenkt eine Jacht.