Beine aus Blei
Tag 9, Kilometer 480, Rhön
POSITIV Apfel-, Birnen- und Walnussbäume für lau an Feldwegen NEGATIV Hügel, Schotter und Orientierungsschwierigkeiten GELERNT Nicht gleich aufgeben; ein hart erarbeitetes Ziel weiß man Jahre später noch zu schätzen
Wir haben den Weserradweg sowie den Fuldaradweg hinter uns gebracht. Irgendwann hörten die R1-Schilder auf, und seither ist es hügelig. Wir befinden uns irgendwo grob zwischen Rhön und Spessart, eher Rhön. Genau wissen wir das nicht, die Karte verstehen wir nur bedingt. Roberto schwitzt und schnauft, kommt jedoch gut voran, langsam, aber stetig – dabei zieht er den Anhänger. Ich hingegen fluche, schimpfe, halte an, atme, schimpfe noch mehr, überlege, das Rad ins Gebüsch zu pfeffern, schiebe stattdessen, steige wieder auf und beschließe im Zehn-Minuten-Takt, dass es das jetzt gewesen sei und ich »die Schnauze gestrichen voll habe«. Roberto will mich aufmuntern und motivieren, doch ich werde nur immer pampiger. Ich bin enttäuscht von meiner eigenen Leistung. Dass es hügelig werden würde, war von vornherein klar, in der Karte ist die Umgebung braun statt grün. Trotzdem kommen die Steigungen für mich nach zwei langen Flussradwegen plötzlich und bringen mich unerwartet aus dem Konzept. In mein Tagebuch schreibe ich am Abend »Der R2 führt MITTEN durch die Rhön. Bergauf, bergab, die GANZE Zeit. Ich bin sehr kaputt. Sehr sehr.« Und genau so meine ich es auch.
Um meine grenzenlose Erschöpfung und dagegen Robertos leichtes Schwitzen nachzuvollziehen, hilft ein Einblick in unsere Kindheit. Roberto ist in Tijuana aufgewachsen, einer Stadt am Pazifik, in der es außer dem Stadtzentrum und der Strandpromenade kaum flache Straßen gibt. Man braucht ein Automatikgetriebe, um permanent am Berg anzufahren. Sein Elternhaus liegt an einem steilen Hügel, so hoch, dass man bis hinüber nach San Diego blicken kann. Diesen Hügel haben die Nachbarskinder und er zum Skateboarden über Rampen genutzt.
Ich hingegen komme aus einem norddeutschen Dörfchen, dessen höchste Erhebung mit 31 Metern über dem Meeresspiegel der Mühlenberg ist, von dem aus man eine tolle Aussicht bis auf die andere Seite des 200 Hektar großen Sees hat. Richtig gelesen, wir bezeichnen 31 Meter Höhe als »Berg«. Der See sowie das gesamte Umland liegen in etwa auf Höhe des Meeresspiegels. Und vor dem letzten Teil des Anstiegs auf diesen Berg steht ein Warnschild für alpin weniger erfahrene Autofahrer, dass es nun etwa 180 Meter lang mit sieben Prozent Steigung hinauf geht. Zum Glück kann man den Gipfel von unten schon sehen.
Dass ich eine Flachlandbewohnerin bin, ist nicht der einzige Grund für meine Konditionsschwierigkeiten. Meine Beine sind eher puddinghaft als stählern, ich halte unterwegs regelmäßig für Raucherpausen, gebe keine Acht auf meine Ernährung und fahre zudem auf einem absolut reiseuntauglichen Rad. Auf den flachen Routen Norddeutschlands war das alles irrelevant. Die fehlende Erfahrung beim Schalten war auf ebener Strecke auch kein Manko, hatte ich doch bisher nie mehr als zwei funktionierende Gänge auf meinem Stadtrad zur Verfügung gehabt. Ich bin zwar Gegenwind-erfahren, aber das hilft mir nun nicht. Erst jetzt in der Rhön rächt es sich, dass ich keinerlei Radelmuskeln aufweisen kann.
So kommt es also, dass ich mich im niedrigsten Gang in Schrittgeschwindigkeit Steigungen hinaufquäle, die für jeden hügelerfahrenen Gelegenheitsradler auch mit Gepäck kein Problem wären. Ich hingegen schwitze, fluche, futtere Motivationsbonbons, überlege mehrfach umzudrehen und erkläre laut, dass ich beim nächsten Bahnhof aufhören und mit dem Zug an die Donau fahren würde, denn da müsse ja schließlich bis zum Schwarzen Meer alles flach sein. Die Vorstellung, dass jeder mühsam hinaufgequälte Meter in einer kurzen Abfahrt wieder »verloren« geht und ich kurz darauf wieder bergauf fahren werde, macht mich schier verrückt. Ich werde frustrierter, gereizter, und irgendwann sieht Roberto ein, dass es das Beste ist, wenn einfach jeder schweigend in seinem Tempo radelt.
Als wir am Abend die Schutzhütte Steiger auf der Wasserscheide zwischen Weser und Rhein erreichen, habe ich endgültig genug. Doch es ist vollbracht, höher hinauf müssen wir vorerst nicht. Hier bleiben wir einfach über Nacht. Die Hütte ist ein paar Meter groß und hat ein Dach, also sparen wir uns den Aufbau des Zeltes und breiten unsere Schlafsäcke auf den Sitzbänken aus. Völlig k.o. vom extremen Konditionstraining essen wir unsere Ravioli gleich kalt aus der Dose, ziehen unsere wärmste Kleidung an und sinken ziemlich schnell in einen erlösenden Schlaf. Wir befinden uns 527 Meter über dem Meeresspiegel, das entspricht der Höhe von 17 Mühlenbergen oder auch etwa der Höhe der Stadt München.
Der Elefant im See
Tag 36, Kilometer 1400, Südwesten der Slowakei
POSITIV Breiter perfekt ebener Donauradweg, schöne Innenstadt in Bratislava NEGATIV Hinter Bratislava wird es etwas eintönig GELERNT Die kreativ bunte Vorstellungskraft läuft im Dunkeln auf Hochtouren
Nach über einem Monat im Sattel erreichen wir die Slowakei. Das erste Land, in dem wir beide vorher noch nie waren und in dem wir die Sprache nicht verstehen.
Am späten Nachmittag radeln wir auf einem breiten Radweg vorbei an einem kleinen See. Perfekt! Hier stellen wir gleich das Zelt auf. Der Ort ist absolut idyllisch, der See liegt klar und spiegelglatt da. Wir sehen den ganzen Abend über keine Menschenseele und genießen die Ruhe. Es wird Nacht, und wir schlafen gut, bis sich plötzlich etwas Riesiges gleich neben unserem Zelt austobt. Sofort sind wir hellwach. Es klappert, platscht und klatscht so laut, als sei dort ein Elefant im See. Wir liegen mucksmäuschenstill da, die Schlafsäcke bis zur Nase hochgezogen, starren einander in die Augen und lauschen. Was kann das nur sein? Es muss größer sein als ein Wildschwein und schwerer als ein Hirsch, denn es macht einen Wahnsinnsradau. Ausgerechnet jetzt fällt mir ein, dass während Robertos Kindheit mal alle Tiere aus einem privaten Zoo in Tijuana ausgerissen und durch die Straßen gezogen sind – Flusspferd, Tiger und Puma eingeschlossen. Waren da heute nicht Plakate für einen Wanderzirkus? Welche Geräusche machen Elefanten eigentlich, wenn sie nicht tröten? Nachschauen kommt jedenfalls nicht infrage. Das Tier scheint unsere Anwesenheit noch nicht bemerkt zu haben, und wir wollen es gern dabei belassen. Nach einer Weile entfernt sich das Tier, und für den Rest der Nacht kehrt wieder Ruhe ein. Wir verbleiben verwirrt und etwas verängstigt liegen, sind aber auch müde genug, sodass wir ziemlich schnell wieder einschlafen.
Am nächsten Morgen sind wir gerade dabei, unsere Siebensachen zu packen, als ein junger Mann mit seinem Hund neben uns stehen bleibt. »Sagt bloß, ihr habt da gezeltet?«, fragt er erstaunt auf Englisch. »Das hätte ich mich nicht getraut, bei all den Bibern!«, erklärt er und blickt nach oben in die Baumkronen. Wir folgen seinem Blick, und erst jetzt wird uns klar, dass die Bäume zu allen Seiten um unser Zelt herum angenagt sind, gefährlich schief stehen und dass wir ein riesiges Glück haben, dass es nicht windiger ist. Jetzt wissen wir auch, was es mit unserem nächtlichen Elefanten auf sich hatte: Das ohrenbetäubende Klatschen in der Nacht war der Biberschwanz auf der Wasseroberfläche und das Klappern das Annagen der Bäume! Nur gut, dass unser Gegenüber keine Ahnung hat, was sich in der Vorstellungskraft von uns Outdoor-Anfängern heute Nacht abgespielt hat.
Im Kinderanhänger mit der wasserdichten Abdeckung Marke Eigenbau befinden sich zwei Reiserucksäcke für den Fall, dass uns das Radeln nicht gefällt.
Kávé mit Määääh
Tag 47, Kilometer 1700, südlich von Budapest, Ungarn
POSITIV Gulaschsuppe, Geigenmusik, Radweg teils entlang der Donau NEGATIV Jede Menge platte Reifen, viel Regen GELERNT Unseren ersten Platten notdürftig zu flicken, hält bis zu zwei Tage
Wir radeln schneller und schneller durch die Dämmerung. Sobald es einmal ganz dunkel ist, wird es wirklich schwer, einen geeigneten Zeltplatz zu finden.