Alte Freunde
Tag 54, Kilometer 1850, äußerster Osten Kroatiens
POSITIV Ajvar und der Blick von Vinkos Haus NEGATIV Unser erster dreifacher Speichenbruch GELERNT Kyrillische Schrift lesen (auch wenn uns das erst in Serbien hilft)
Nach einem halbstündigen Aufenthalt in Serbien überqueren wir schon wieder die nächste Grenze: nach Kroatien. Hier treffen wir Vinko, einen 27-jährigen Kroaten aus Zagreb, der das ländliche Leben liebt. Vor einem Jahr hat er sich am Rand des Dörfchens Batina für einen Spottpreis ein wunderschönes altes Weingut gekauft. Den Sommer über renovieren er und seine Freundin Maja das am Hang gelegene Haus mit Blick hinunter auf die Donau und die serbische Landschaft auf der anderen Seite. Bewohnbar ist es bereits, als wir ankommen, aber vieles läuft noch etwas altmodisch ab. Dabei will Vinko es auch belassen. Ihm gefällt das gemächliche Leben hier, die Abwesenheit von Stress, Hetze, Terminen und Perfektionismus. Hier kann er handwerklich und künstlerisch tätig sein und jeden Tag genießen. Vinko kocht Wasser für seinen Tee in einem Kessel auf einem alten Holzofen. Kleidung wird per Hand im Wäschekübel gewaschen, der Wasservorrat muss bei Dürre von der Feuerwehr aufgefüllt werden, und Strom gibt es nur eingeschränkt. Es gibt viel zu tun: Vinko zimmert Regale, malt Wände an, hackt Feuerholz, backt Brot, züchtet Kefir und repariert die Tür zu dem in den Felsen geschlagenen Weinkeller, der ganzjährig schön kühl ist. Vinkos weinloses Weingut ist nicht das einzige renovierungsbedürftige Gebäude. Zu Zeiten des Jugoslawienkrieges hat die kleine Grenzstadt stark gelitten. Viele Häuser sind nun unbewohnt. Die meisten jungen Menschen hat es in die Städte gezogen.
Vinko, Roberto und ich gehen hinunter ins Ortszentrum, wo wir Zutaten für eine Fischsuppe einkaufen. Den Fisch gibt es bei zwei Anglern zu Hause. Sie heißen Phillip und Yosef und sind beide Kriegsveteranen, allerdings haben sie jeweils für die andere Seite gekämpft. Phillip hat seine Frau und seinen Sohn im Krieg verloren und Yosef seinen Bruder. Sie erzählen uns von der nostalgischen Zeit unter »Tito«, aber auch vom Krieg und von ihrem Leben als Fischer. Beide verbindet der Verlust ihrer geliebten Familie, daher spielt es für sie heute keine Rolle mehr, dass sie einmal auf verschiedenen Seiten standen. Nichts wird Yosefs Bruder und Phillips Frau und Sohn wieder zurückbringen. Sie wünschen sich Frieden bis an ihr Lebensende.
Phillip und Yosef aus Batina verkaufen uns Fisch und erzählen von früher.
Der erste Winter
Tag 202, Kilometer 3465, Serbien, Nordmazedonien, Griechenland und Türkei
POSITIV Tänze und Musik NEGATIV Karge Landschaften, Frost und Nebelschwaden GELERNT Radreisen ist ganz klar unser Ding, und endlich trauen wir uns, den Anhänger zu verscherbeln, den Reiserucksack liegen zu lassen und nagelneue Fahrradtaschen zu kaufen
In Belgrad werfen wir unsere Pläne über den Haufen, lassen den Donauradweg hinter uns und radeln gen Süden. Fast jeden Tag gefriert es, und wir erhoffen uns wärmeres Klima in Griechenland. Zum ersten Mal folgen wir keinen offiziellen Radrouten, sondern fahren einfach auf kleinen Landstraßen frei nach Lust und Laune. Tagelang geht es entlang abgemähter Felder durch Nebelschwaden.
Unsere steifgefrorenen Füße und Hände tauen wir in Läden und Bäckereien auf, in denen wir unnötig lange herumstehen und dann irgendetwas Billiges einkaufen. Nachts hat es bis zu -10 °C, und wir müssen kuscheln, was das Zeug hält. Schnell lernen wir, dass abendlicher Tee kontraproduktiv ist, da er die Blase füllt. Stattdessen kochen wir Suppe mit viel Chili, die wärmt auch von innen.
Ab Skopje wird es jeden Tag ein klein wenig wärmer, und als wir in Thessaloniki das Meer erreichen, ist es sogar ein paar Tage lang angenehm warm. Weihnachten und Neujahr frieren wir wieder, und als wir in Istanbul eintreffen, fällt der erste Schnee. Es ist gerade Anfang Januar, und wir haben die Nase bereits gestrichen voll vom Winter.
Online lernen wir Eda kennen. Gemeinsam mit ihrem Partner Emir und Freund Orkun hat sie ein Stück Land samt Gebäuden gepachtet, das die drei in ein kleines hübsches Hotel verwandeln wollen. Sie haben den ganzen Winter lang Zeit für die Arbeit und brauchen helfende Hände. Im Gegenzug bieten sie uns Kost und Logis. Bingo! Kurz darauf sitzen wir im Bus nach Fethiye. Zweieinhalb Monate bleiben wir, schleifen Fensterrahmen und Türen ab und streichen sie neu, kochen Hunde- und Katzenfutter, pflügen Beete, sägen trockene Palmwedel ab, hüten neugeborene Welpen, kochen für alle, bauen ein Hühnerhaus, versuchen den alten, bissigen Hengst zu zähmen und schließen nebenher Freundschaften fürs Leben. Als Ende März nur noch die Bergspitzen weiß sind, ist das Projekt Hotel schon ein ganzes Stück weitergekommen. Wir packen unsere Siebensachen, vergießen ein paar Tränchen, umarmen unsere Freunde und ziehen weiter.
Unsere Mitbewohner, Kollegen und Freunde Ali, Selin, Emir, Eda, Ersoy, Orkun und Ian verabschieden uns.
Auf Nebenstraßen durch Serbien.
West- und Zentralasien
Die Ausläufer des Pamir-Hochgebirges in Kirgisistan.
Radler mit Rettungsringen
Tag 259, Kilometer 5138, Türkei
POSITIV Pamukkale, Sonnenaufgang in Kappadokien, alte Küstenwanderwege bei Fethiye und die vielen Trinkwasserquellen am Straßenrad NEGATIV Es geht immer bergauf, selbst wenn alle sagen, es bliebe flach GELERNT Etwas Türkisch, die Okey-Spielregeln und ein Stehklo mit Wasser, statt Papier zu benutzen
»Wie kann das sein, du radelst jeden Tag und trotzdem bist du genauso dick wie ich!« Roberto guckt an sich herunter und ist für einen Moment sprachlos. Das kommt äußerst selten vor. Sein Gegenüber, eine füllige Frau mittleren Alters im engen rosa Rennradtrikot, grinst ihn an. Sie hat es nicht böse gemeint, sie hatte eher drahtig sportliche Muskelpakete erwartet und nicht zwei Normalos mit Rettungsringen.
Woran das liegt, wissen wir ganz genau. An sportlicher Betätigung mangelt es uns nicht. Die Türkei ist voller Berge, und bis wir die Schwarzmeerküste erreichen, geht's immer irgendwo rauf oder runter. Es ist vielmehr die kolossale Menge an Kalorien, die wir täglich aufnehmen. Grund dafür ist die unvergleichbare türkische Gastfreundschaft.
Gleich am ersten Tag im Land winkt uns eine Gruppe älterer Herren zu, die in einem Lädchen sitzt und Backgammon und Okey spielt. Einer formt seine linke Hand zu einem kleinen Teeglas und rührt mit der Rechten einen imaginären Löffel. Wir sollen ihnen auf ein Pläuschchen Gesellschaft leisten. Nach drei Gläsern beschließt die Gruppe, dass wir die Nacht bei Mustafa verbringen würden, seine Frau sei bereits zu Hause und bereite einen Schlafplatz vor. Zunächst sind wir noch überrascht ob der spontanen Gastfreundschaft gegenüber zwei völlig Fremden. Doch dies ist kein Einzelfall. Während unserer fünf Monate in der Türkei erfahren wir am eigenen Leib, dass es für Türken selbstverständlich ist, das, was sie haben, zu teilen, auch mit völlig Fremden. Reisende werden ohnehin immer unterstützt, sonst hätte es sich früher kaum jemand leisten können, nach Mekka zu pilgern.
Wochenlang bricht Roberto hinten rechts am Rad immer wieder eine Speiche. Da wir weder Nippelspanner noch Kettenpeitsche besitzen (und diese Werkzeuge für uns zu diesem Zeitpunkt noch wie Fantasienamen klingen), sind wir Dauerbesucher in allen lokalen Radlädchen auf dem Weg. Meist kriegen wir währenddessen noch einen Tee angeboten,