Was aber hat Pythagoras in Ägypten und Babylon an Lehren und Kenntnissen empfangen? Jamblichos erwähnt Astronomie, Geometrie, Zahlenlehre und Musik, somit die vier typischen Wissenschaften der Pythagoreer. Doch mehr als die Unterweisung in Mathematik und Sternkunde, in welchen Disziplinen die Babylonier damals bereits weit fortgeschritten waren, betont Jamblichos das religiöse und mystagogische Element in den Studien des Meisters aus Samos. Er sagt, Pythagoras wurde in Ägypten „in alle Mysterien und Geheimkulte eingeweiht”; er genoß die „Sympathie der Priester und Propheten”; er durfte „in den allerheiligsten Gemächern” der Tempel weilen; er wurde von den Magiern genau unterrichtet „in allem, was heilig war”.
Dies sind aufschlußreiche Auskünfte, die zu der Vermutung berechtigen, daß sich Pythagoras — weit mehr als für naturwissenschaftliche Fragen — für die überlieferten Geheimlehren und das „heilige Wissen” priesterlicher Kasten und ähnlicher Kultverbände interessierte. Hier fand er so vieles, was schließlich in seine eigenen Lehren und in die Ordnung seines Bundes einging.
Zurückgekehrt nach Samos, wo der einst für so glücklich gepriesene Polykrates durch die Perser gestürzt und ans Kreuz geschlagen worden war (522 vor Christus), fühlte sich Pythagoras unter den völlig veränderten öffentlichen Verhältnissen seiner nunmehr unter iranischer Oberhoheit stehenden Inselheimat nicht mehr wohl. Wahrscheinlich litt er auch darunter, daß er mit seinen im Orient gewonnenen Lehren zu Hause nur wenig Anklang fand, als er, wie Jamblichos sagt, versuchte, „seine Unterweisung auf symbolischem Weg zu vollbringen, ganz wie er selbst in Ägypten ausgebildet worden war.” So verließ denn Pythagoras um 510 — nach anderen Berichten, darunter auch dem von Cicero (De re publica 2, 28), allerdings schon um 530, also noch unter dem Tyrannen Polykrates — wieder und diesmal endgültig sein Vaterland und fuhr über Kreta und Griechenland, wo er neben anderen Orten auch das Apollonheiligtum zu Delphi und Sparta besuchte, nach Unteritalien, wo es eine Reihe blühender Griechenstädte gab. Pythagoras war damals also entweder schon fast sechzig oder erst etwa vierzig Jahre alt, als er in der achaiischen Kolonie Kroton landete und sich dort niederließ. Kroton, das mächtigste Gemeinwesen der Magna Graecia, wurde zur Schicksalsstadt des ausgewanderten Inselgriechen. Erst hier fand er völlig den ihm wesensgemäßen Weg. Hier gelangte er dazu, all das, was er auf seinen Reisen an Lehren empfangen hatte, geistig wie politisch fruchtbar zu machen und selber vom Adepten morgenländischer Priesterweisheit zum Stifter eines eigenen staatsübergreifenden religiös-ethischen Ordens zu werden.
Als Pythagoras in Großgriechenland ankam, befanden sich zahlreiche der süditalischen Griechenstädte miteinander in Kriegszustand. Um 540 hatten die Stadtstaaten Kroton, Sybaris und Metapontion als Verbündete die kleine Stadt Siris besiegt und völlig zerstört. Anschließend griff Kroton die mit Siris verbündet gewesene Stadt Lokri an. Trotz der militärischen Übermacht der Krotoniaten gewannen die Lokrer die Schlacht. Die Niedergeschlagenheit der Besiegten war allgemein; man führte den Mißerfolg des Kriegszuges auf Zuchtlosigkeit, Verweichlichung und schlechte Führung zurück.
In dieser Situation ging Pythagoras in Süditalien an Land. Nach einem kurzen Aufenthalt in Sybaris am Golf von Tarent ließ er sich in dem südlicher gelegenen Kroton nieder. Er hielt dort, wie Jamblichos berichtet, vier große Reden, mit denen er sich zuerst an die jungen Männer, dann an den Senat, schließlich an die Knaben und zuletzt an die Frauen der Stadt wandte.
Die jungen Männer ermahnte er zur Ehrfurcht vor dem Alter, indem er darlegte, daß auch im „Kosmos” dem Früheren höherer Rang zukomme als dem Späteren. Kosmos bedeutete damals allgemein „Schmuck”, „Ordnung”. Pythagoras scheint der erste Grieche gewesen zu sein, der mit diesem Wort das Weltall bezeichnete: das Universum als eine harmonie-erfüllte Ordnung, als ein von göttlicher Schönheit strahlendes Schmuckstück oder Juwel. Es ist bemerkenswert, daß er bereits in seiner allerersten Rede auf italischem Boden nicht nur das Weltall einen Kosmos nannte, sondern auch seine ethischen Gebote mit einer kosmologischen Begründung versah, indem er Sittlichkeit sozusagen als angewandte Astronomie lehrte: so wie im Kosmos das Frühere höher geehrt werde als das Nachfolgende, so wie der Aufgang würdevoller sei als der Untergang, die Morgenröte höher als der Abend, der Ursprung heiliger als das Ende, so sollen auch die später Geborenen zu den früher Geborenen ehrerbietig sein. Pythagoreismus ist, halten wir dies schon jetzt fest, eine das Weltall bedenkende und als normatives Vorbild menschlicher Wohlordnung anerkennende Philosophie oder „Kosmosophie”. Auch ein zweiter allgemeinpythagoreischer Grundgedanke klingt in der ersten Rede, die der Samiote im Gymnasion von Kroton hielt, schon rätselhaft an:
„Ihr schuldet den Eltern so großen Dank, wie ein Verstorbener dem abstatten möchte, der ihn ins Leben zurückbringen könnte.”
Der geheimnisvolle, wie raunend gesagte Ausspruch wird nur dann verständlich, wenn wir ihn als eine Anspielung auf die Seelenwanderungslehre der Pythagoreer auffassen: alle, die jetzt leben, waren schon einmal gestorben und sind insofern durch ihre Eltern wieder mit dem Leben versehen worden.
Daß Pythagoras jedoch nicht bloß als einzig der ekstatischen Schau des Kosmos und der Meditation des vor- und nachgeburtlichen Seelenschicksals lebender Esoteriker spricht, sondern von allem Anfang an die Statur eines Politikers, ja Staatsmannes aufweist, zeigt ein Satz aus der Rede an die Jünglinge, der gewiß über die privaten Beziehungen hinaus auch auf die öffentlichen Verhältnisse der Stadt zielte:
„Begegnet einander im wechselseitigen Verkehr am besten so, daß ihr den Freunden nicht zu Feinden und den Feinden so schnell wie möglich zu Freunden werdet.”
Dies war die erste Rede des Pythagoras in Kroton. Sie hatte die jungen Männer so stark beeindruckt, daß sie ihren Vätern davon begeistert erzählten. Daraufhin lud der „Rat der Tausend” — der Senat — den fremden „Weisheitsfreund“, wie er sich selbst im Gegensatz zu den „Sieben Weisen” der älteren Zeit nannte, ins Rathaus zu einer weiteren Ansprache ein. Pythagoras folgte der Einladung, den führenden Männern des Staates nützliche Ratschläge zu unterbreiten. Jamblichos berichtet darüber:
„Er riet ihnen zunächst, einen Musentempel zu errichten, um die Eintracht unter ihnen zu erhalten. Denn diese Göttinnen haben allesamt denselben Namen, man kennt sie in der Überlieferung nur als Gemeinschaft, sie freuen sich am meisten über gemeinsame Ehrungen, und überhaupt ist der Chor der Musen immer ein und derselbe. Außerdem umfaßt er Einklang, Harmonie, rhythmische Ordnung und alles, was Eintracht schafft. Auch erstreckt sich die Macht der Musen nicht nur auf die schönsten Gegenstände der Betrachtung, sondern auch auf die Symphonie und Harmonie des Seienden.”
Wieder ein Rätselwort, das den Kosmosophen Pythagoras verrät, der vom musisch-musikalischen Zusammenklang des Weltalls überzeugt ist: eine Anspielung auf die berühmt gewordene, durch die gesamte europäische Geistes- und Seelengeschichte fruchtbar nachwirkende, noch in den Werken Giordano Brunos, Johannes Keplers, Gottfried Wilhelm Leibniz’, Goethes, Hölderlins und Gustav Theodor Fechners widerhallende Lehre von der Harmonie des Kosmos und der Musik der Sphären, die nur begnadeten Eingeweihten vernehmlich ist. Dieser Gedanke wird bereits von Aristoteles dem Pythagoras zugeschrieben.
In seiner Rede vor dem Senat erläutert der aus der Ferne gekommene Philosoph seine Idee von der „Symphonie und Harmonie des Seienden” nicht näher. Ihre in alle Einzelheiten gehende Darlegung behielt er einem Kreis von ihm ergebenen Esoterikern vor. Sie war geistiges Krongut seines geheimen Bundes. Er erörtert