Vom Geist Europas. Gerd-Klaus Kaltenbrunner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gerd-Klaus Kaltenbrunner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783990810569
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Hinweis auf den kosmischen Ursprung jeglicher Ordnung und Harmonie, die, wie er ausdrücklich sagt, durch den Chor der Musen gestiftet und verbürgt werden. Ihnen sollen deshalb auch die Bürger einen Tempel weihen. Politik wird von Pythagoras im Kult der Musen begründet. Er rät den Krotoniaten, „einen Musentempel zu errichten, um die Eintracht zu erhalten”, denn der Chor der Musen, wie er hinzufügt, umfaßt „Einklang, Harmonie, rhythmische Ordnung und alles, was Eintracht schafft.” Der Oberhoheit der Musen unterliegen nicht nur „die schönsten Gegenstände der Betrachtung”, etwa die vom Geist des Dichters oder Philosophen geschauten und zur Sprache gebrachten Dinge, sondern auch „die Symphonie und Harmonie des Seienden”. Diese Worte des Pythagoras spielen deutlich auf seine in höchstem Maße „musische” Kosmologie an. So wie die irdische Musik eine Nachahmung der himmlischen Sphärenharmonie ist, so soll die Politik der Menschen nach den Gesetzen des von den Musen vollendeten Kosmos sich ausrichten.

      Politik ist bei Pythagoras kosmisch fundiert. Der Kult der die Harmonie des Weltalls zum Tönen bringenden Zeus-Töchter soll auch der Polis, der Stadt als menschlichem Mikrokosmos, zur Eintracht verhelfen. Der Kosmos als wohlgeordnetes Gebilde erscheint als Urbild wohlgeordneter Staatlichkeit, und die mimetische Übereinstimmung beider Bereiche wird durch die Musen gewährleistet. In diesem Sinne steht Pythagoras, der auch eine Art von Musagetes ist, als mit Orpheus verwandte Gestalt vor uns. Orpheus, für alle Zeiten die Symbolfigur der friedenstiftenden Macht des Gesanges, war Sohn einer Muse; als seine Mutter wird Kalliope genannt, die vornehmste der neun Musen (Hesiod: Theogonie 79), als sein Vater Apollon. Wie Pindar (Pythische Oden 1,10) von den Musen sagt, ihre Macht sei so groß, daß bei ihrem Ertönen sogar der gewaltsame Kriegsgott Ares die Waffen fallen läßt, um in friedlichen Schlummer zu versinken, so wird von Orpheus berichtet, daß sein Lied die Zwietracht der Menschen wie die Wildheit der Tiere besänftigt habe und seinen bezwingenden Melodien selbst Bäume, Flüsse und Felsen sich einträchtig fügten. Der mythische Orpheus ist gleichsam die männlich-irdische Entsprechung der den Kosmos rühmenden, ihn erst recht eigentlich „kosmisierenden” Musen. Der geschichtliche Pythagoras hingegen erscheint uns als ein politischer Orpheus, als Musaget staatlich-bürgerlicher Harmonie, der das Wort Pindars ernst nahm: „Blind sind der Menschen Gedanken, wenn einer ohne die Musen mit Verstandeskünsten allein den Weg sucht.”

      Der den Kult der Musen als Bürgschaft politischer Harmonie empfehlende Pythagoras setzt seine Rede an die Stadtväter von Kroton mit der Ermahnung fort:

      „Fasset das Vaterland als ein Pfand auf, das ihr gemeinsam von der Mehrheit der Bürger empfangen habt. Verwaltet es daher so, daß eure Vertrauenswürdigkeit auf eure Erben übergeht. Dies wird gewiß dann eintreten, wenn ihr euch allen Bürgern gleichstellt und nur in der Gerechtigkeit etwas vor ihnen voraushabt.”

      Er begründet abermals diese Forderung nach Gerechtigkeit mit einem Fingerzeig auf den Mythos:

      „Denn im Wissen darum, daß jeder Ort der Gerechtigkeit bedarf, erzählen sich die Menschen den Mythos, Themis — die Göttin des Gesetzes — habe dieselbe Stellung neben Zeus wie Dike — die Göttin des Rechts — neben Pluton, dem Gott des Reichtums und Herrscher über die Unterwelt, und wie das Gesetz in den Staaten, damit derjenige, der nicht in Gerechtigkeit seinen Pflichten nachkommt, sich zugleich als Frevler am ganzen Kosmos erweise.”

      Abermals fällt an bedeutsamer Stelle das Herzwort pythagoreischer Philosophie: „Kosmos”. Wiederum begründet der Samiote ein staatsbürgerliches Gebot mit Hinweis auf die Gesetze der Weltordnung. Wie im Olympos die Göttin Themis, wie im Hades die Göttin Dike und wie im ganzen Kosmos die Musen herrschen, so sollen Gerechtigkeit und Gesetz im Staat die Könige sein. Wer sich dagegen vergeht, ist nicht nur ein politischer Übeltäter und Schädling, sondern ein „Frevler am ganzen Kosmos”, ein Aufrührer gegen die Ordnung des Weltalls.

      Das von Pythagoras kosmomythisch unterbaute Regierungsideal ist weder die Demokratie noch die Tyrannis, sondern eine aristokratische Republik. Pythagoreertum ist von allem Anfang an kämpferischer Elitismus, Bekenntnis zur Aristokratie im wörtlichen Sinne einer „Herrschaft der Besten”. Weder die Masse noch ein despotischer einzelner sollen regieren, sondern eine qualifizierte Elite von solchen, die, obgleich sonst allen Bürgern gleichgestellt, „nur in der Gerechtigkeit etwas vor ihnen voraushaben.” Diesem Staatsideal war der Orden verpflichtet, den Pythagoras gründete. Der Orden, der seine Lehren nicht jedem zugänglich machte, verstand sich als aristokratischer Geheimbund der Musischen, Wissenden und Gerechten.

      Wie an die Jünglinge wendet sich Pythagoras auch an den Senat mit sittlichen Imperativen. Hat er den Jugendlichen Ehrfurcht vor dem Alter und Freundessinn gepredigt, so gebietet er den Erwachsenen eine strengere Ehemoral. Die Männer sollten ihre Kebsweiber entlassen:

      „Sehet auch ernstlich darauf, daß ihr selbst nur eure eigene Frau kennt und daß die Frau nicht mit anderen das Geschlecht verfälsche… Beherzigt, daß ihr eure Frau wie eine Schutzflehende unter Trankopfern vom Herd aufgehoben und so im Angesicht der Götter ins Haus geführt habt.”

      Auch mit dieser zweiten Rede fand der eben erst in Kroton Angekommene Beifall und Nachfolge, wie wir Jamblichos entnehmen können. Die Ratsherren entließen ihre Nebenfrauen, beschlossen die Errichtung eines Musenheiligtums und luden Pythagoras ein, im Tempel des Apollon zu den Knaben und in dem der Hera zu den Frauen zu sprechen.

      Zu den noch unmündigen Knaben sagte Pythagoras unter anderem:

      „Trachtet ernstlich nach der Bildung (paideia), die von eurem Lebensalter (pais, das Kind) ihren Namen hat. Wer als Knabe gut ist, dem fällt es leicht, sein Leben lang ein edler Mensch zu bleiben. Wer aber in der Kindheit nicht wohlgeraten ist, dem wird es später sauer, es zu werden und zu bleiben. Ja es ist vielmehr unmöglich, von einem schlechten Ausgangspunkt aus gut zum Ziele zu laufen.”

      Abermals kommt Pythagoras, der ja in einem Tempel redet, auf die Götter und ihren Kult zu sprechen. Er erinnert daran, wie die Gottheiten vor allem den Kindern hold gesinnt seien. Ein Kind genieße das Vorrecht, jederzeit jeden Tempel betreten zu können. Es würde ja auch immer vorausgeschickt, wenn es darauf ankomme, von den Göttern außergewöhnlichen Beistand frommsinnig zu erflehen. Solcher Gnade müßten sie sich würdig erzeigen. Dies aber vermögen sie am besten dadurch, daß sie den Eltern ehrfürchtig folgen.

      Den Frauen, die sich auf Geheiß des Senats im Heiligtum der Hera versammelt hatten, legte Pythagoras ebenfalls dar, wie sie die Götter am geziemendsten ehren können. Er beschwor sie mit eindringlichem Ernst, die lautere Gesinnung am höchsten zu schätzen und nur Opfergaben darzubringen, die sie mit eigener Hand und auf unblutige Weise zubereitet hätten. Wie Zarathustra, den er besucht hatte, und wie Empedokles, der später einer seiner Jünger wurde, empfand Pythagoras einen tiefen Abscheu vor der Befleckung menschlicher Hände und den Göttern geweihter Altäre durch Schlachtopfer:

      „Was ihr der Gottheit spenden wollt, das bereitet eigenhändig und bringt es ohne Hilfe von Sklaven an die Opferstätte: Kuchen, Backwerk, Waben und Weihrauchkörner. Mit Mord und Totschlag ehret das Göttliche nicht.”

      Es ist offenkundig, daß die pythagoreische Ächtung blutiger Opfer als kannibalischer Bräuche mit der Lehre von der Seelenwanderung zusammenhängt, mit der Idee einer Mensch und Tier umfassenden Gemeinschaft des Lebendigen, durch die dasselbe Blut kreist und die deshalb zu schonen sei.

      Hoch dachte Pythagoras, der Apolliniker, von dem religiösen Genius des weiblichen Geschlechts. Die Frauen hielt er für das recht eigentlich zu wahrer Frömmigkeit befähigte, für das von Natur aus zu Götterverehrung bestimmte und selber göttlicher Verehrung würdige Geschlecht. Die vier weiblichen Lebensalter, so lehrte er, seien nicht umsonst nach vier Göttinnen benannt und ihnen zugeordnet:

      „Der, den man den Allerweisesten nennt, der die Stimme der Menschen geschaffen und die Namen erfunden hat — war es nun ein Gott, ein Dämon oder ein göttlicher Mensch —, hat in der Erkenntnis, daß das Geschlecht der Frauen am tiefsten zur Frömmigkeit veranlagt ist, jeder Altersstufe den Namen einer Göttin gegeben: die Unverheiratete nannte er Kore, die Verheiratete Nymphe, die Mutter Meter, und die Großmutter in dorischer Mundart Maia …”

      Kore, Nymphe, Meter, Maia — alle vier sind Namen