Jörg war in den letzten Tagen unterwegs gewesen, und die Kinder hatten ihren Papi vermisst. Es war zu verstehen, dass sie jetzt aufgeregt waren. Ihr Papi hatte sie ins Bett gebracht, ihren eine Geschichte vorgelesen. Vielleicht hatten sie nicht einschlafen können, oder sie waren aufgewacht, und da war halt die Fantasie mit ihren durchgegangen.
Ein bitterer Zug umspielte ihre schönen Lippen. Wenn sie an ihre eigene Kindheit dachte …
Ihr Bruder Fabian und sie wären niemals auf den Gedanken gekommen, zu ihren Eltern zu gehen. Da hätten sie aber etwas zu hören bekommen. Aber meistens waren die abends eh nicht daheim gewesen.
Diese lieblose Kindheit war für Stella ganz gewiss ebenfalls ein Grund, eine so liebevolle Mutter geworden zu sein. Sie schenkte ihren Kindern im Übermaß das, was sie selbst so sehr vermisst hatte.
Ihre Mutter machte ja jetzt Annäherungsversuche, und sie hatte sich auch verändert. Aber konnte man Liebe in einen Menschen hineinpflanzen?
Auch ihr Vater war, seit es Cecile in seinem Leben gab und er an seine alten Studentenzeiten in Paris erinnert worden war, sehr viel weicher geworden. In erster Linie wohl, weil er erfahren hatte, dass Adrienne, seine große Liebe, niemals aufgehört hatte, ihn zu lieben. Hätten widrige Umstände sie damals nicht getrennt, wären sie vermutlich noch immer glücklich miteinander, und Cecile hätte nicht ohne Vater aufwachsen müssen.
Aber dann hätte er ihre Mutter nicht kennengelernt, und es gäbe sie und Fabian nicht, jedes Ding hatte zwei Seiten.
Stella war ein weichherziger Mensch, und ihre Mutter tat ihr leid, und sie war bereit, vieles zu vergessen.
Natürlich hatte sie ihr durch ihre Lieblosigkeit eine ganze Menge angetan, aber Stella war nicht nachtragend, und wie sie auch war, es war ihre Mutter. Und sie wollte sich nicht irgendwann einmal Vorwürfe machen, wenn es für eine Versöhnung zu spät war. Da war sie anders als ihr Bruder Fabian. Gut, er respektierte seine Eltern, aber lieben würde er sie wohl nie. Welch ein Glück, dass er in Ricky eine so wunderbare Partnerin gefunden hatte. Wer weiß, vielleicht wäre er sonst ein ganz verbitterter Mann geworden.
Wenn man Ricky und Fabian sah, dann konnte bei einem die Sonne aufgehen. Mit ihr und Jörg war es wirklich ganz wunderbar, aber Ricky und Fabian …
Bestimmt lag es daran, dass sie eine Auerbach war, die aus einem liebevollen Elternhaus kam und all ihre Liebe verschwenderisch weitergeben konnte. Jörg kam zwar ebenfalls aus diesem Elternhaus, aber er war ein Mann. Und Männer waren, was Gefühle anbelangte, einfach anders. Die konnten nicht so aus sich herausgehen. Aber was Jörg zu geben hatte, das reichte für sie allemale. Aber für Fabian freute es sie. Da sie keine richtige Elternliebe bekommen hatten, waren sie von klein auf immer sehr eng gewesen. Und es wäre schrecklich für Stella, wenn ihr Fabian an die falsche Frau geraten wäre. War er nicht. Sie hatten alle beide Glück gehabt, und das war wohl das, was man einen gerechten Ausgleich des Schicksals nannte.
Sie trank noch etwas, und da kam auch schon Jörg zurück, setzte sich wieder und sagte: »Sie schlafen, und diesmal habe ich mich davon überzeugt, dass sie es wirklich tun, unsere kleinen Lieblinge. Ich sehe, du hast den Wein bereits probiert. Und, habe ich zu viel versprochen?«
Stella lehnte sich an ihn.
»Hast du nicht, mein Liebling. Aber ich bin froh, dass du jetzt bei mir bist, und ich hoffe, dass wir jetzt unsere Zweisamkeit genießen können.«
Er legte einen Arm um ihre Schulter, küsste sie, dann sagte er: »Das werden wir.«
Stella hatte eigentlich mit ihm über ihre Eltern, ganz speziell ihre Mutter sprechen wollen, wie sie sich ihnen gegenüber verhalten sollte. Aber das hatte Zeit. Das lief nicht davon, aber einen solchen Augenblick wie diesen jetzt, voller Liebe, voller Vertrautheit, voller intensiver Nähe, den bekam man so schnell nicht wieder.
Der Wein war ganz wunderbar, aber noch wunderbarer war es, die Küsse zu spüren, die so unbeschreiblich schön waren.
*
Doktor Roberta Steinfeld hatte es sich angewöhnt, die meisten Mahlzeiten zusammen mit ihrer Haushälterin Alma Hermann in ihrer gemütlichen Wohnküche einzunehmen.
Auch heute Abend saßen sie zusammen, hatten gut gespeist und genossen nun den Nachtisch, eine wunderbare Crème brûlée, die niemand so gut machen konnte wie Alma, auch nicht der Franzose des Sternerestaurants, in das sie früher allein wegen dieser Nachspeise mit ihrem Exmann Max gegangen war.
Normalerweise unterhielten sie sich angeregt, ganz besonders Alma genoss die Augenblicke mit ihrer Chefin. Aber die war heute ausgesprochen ruhig. Das kannte Roberta nicht an Alma, ohne die sie sich ein Leben überhaupt nicht mehr vorstellen konnte. Alma war das Beste, was ihr passieren konnte. Seit Alma bei ihr war, musste Roberta sich um das Haus, den Haushalt, den Garten, das Essen, sie musste sich um überhaupt nichts mehr Gedanken machen. Alles funktionierte perfekt. Alma hatte auf ihren Weg kommen müssen und hatte Ordnung in das Chaos ihres Alltags gebracht. Roberta war eine ganz hervorragende Ärztin, da machte ihr niemand etwas vor. Aber ansonsten …, darüber wollte sie lieber nicht nachdenken, denn das würde ihren Blutdruck ganz gehörig in die Höhe treiben.
Auf den Weg kommen …
Es als Zeichen zu sehen …
Dafür war eigentlich ihre Freundin Nicki zuständig. Aber was Alma anbelangte, da musste sie Nicki zustimmen.
Daran, wie es damals gewesen war, als sie Alma krank, antriebslos, verzweifelt, hungrig zufällig im Wald gefunden hatte, mochte Roberta jetzt nicht denken. Das lag eine ganze Weile zurück, alles war gut gegangen, und Alma war der Engel, der ihr den Rücken freihielt.
Sie waren ein gutes Team geworden, was einander vertraute. Doch jetzt stimmte etwas nicht, und was das war, das musste Roberta herausfinden. Alma benahm sich ganz anders als sonst.
»Alma, was ist los?«, erkundigte sie sich deswegen.
Alma wurde rot, überlegte einen Augenblick, wollte etwas sagen, doch dann besann sie sich.
»Oh …, äh …, ich …, nichts, alles ist in Ordnung.«
Roberta begann zu lachen.
»Also, meine liebe Alma, eine Schauspielerin hätten Sie nicht werden können, darin sind Sie grottenschlecht. Und flunkern können Sie ebenfalls nicht, weil Sie dazu viel zu aufrichtig sind. Noch einmal. Was ist los? Habe ich etwas gemacht? Haben Sie sich über mich geärgert? Dann heraus mit der Sprache.«
Eine solche Frage empörte Alma.
»Sie doch nicht, Frau Doktor. Hier sein zu dürfen, für Sie zu arbeiten, ist das Allerbeste, was mir in meinem Leben bislang passiert ist. Sie sind eine Chefin, wie man sie sich nur wünschen, von der man träumen kann.«
Roberta winkte ab.
»Also gut, dann freue ich mich, und ich bin auch zufrieden, dass ich an nichts die Schuld trage. Doch meine Liebe, ich kenne Sie mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass etwas nicht stimmt. Erzählen Sie mir, was Sie bedrückt, nur Sprechenden kann geholfen werden.«
Alma überlegte einen Moment, rang mit sich, dann sagte sie: »Frau Doktor, Sie wissen doch, dass ich Mitglied des Gospelchors bin.«
Roberta nickte.
»Das weiß ich, und das finde ich auch ganz wunderbar.«
»Ja,