Inhalt
Danke für mein Leben, Roberta!
Ein kleines Mädchen hat Heimweh
Leichtsinn raubte ihr das Glück
Das Wetter hatte sich über Nacht gedreht, und nun wurde wohl auch dem größten Optimisten bewusst, dass nicht ewig Sommer sein konnte. Es regnete seit Tagen, und der Wind zerrte an den Bäumen, und die Blätter fielen haufenweise, um letztlich in unansehnlichen Klumpen auf den Wegen zu liegen.
Der Sommer war ja längst schon vorbei, doch es hatte noch so viele schöne und warme Tage gegeben, dass man alle Gedanken an den Herbst verdrängt hatte.
Herbst …
Ja, der war kalendarisch da, aber in ihrem Herzen, in ihrem Inneren gab es ihn schon länger, und Inge fürchtete, da würde es niemals mehr den beschwingten Sommer geben oder den Frühling, der freudige Erwartungen weckte.
Inge Auerbach konnte sich noch nicht mit dem abfinden, was geschehen war, und wenn sie ehrlich war, dann musste sie zugeben, dass sie sich vermutlich mitten in einer tiefen Depression befand, seit ihr geliebtes jüngstes Kind sich in Australien befand. Weiter ging es ja wohl nicht.
Inge stand am Fenster und schaute hinaus in den Regen, der unaufhörlich gegen die Scheiben klatschte.
Im Garten gab es jetzt nichts mehr zu tun, aber im Haus, da wartete eine Menge Arbeit auf sie, zu der sie sich einfach nicht aufraffen konnte.
In der Waschküche stapelte sich die ungewaschene Wäsche, auf den Möbeln sah man dicke Staubschichten, und in ihrer Küche, da tat sich nicht mehr viel. Von wegen ausgefallene Gerichte, für die sie berühmt war. Sie schusterte da einfach etwas zusammen, was schnell ging und wenig Arbeit machte, und wenn Werner nicht daheim war, begnügte sie sich mit einem Butterbrot, oder sie aß überhaupt nichts und starrte stundenlang trübsinnig vor sich hin, oder sie weinte.
Sie hatte einige Kilo abgenommen, doch der Preis, den sie dafür zahlte, war viel zu hoch. Außerdem gefiel sie sich so abgemagert nicht.
Sie konnte noch immer nicht begreifen, was geschehen war, dass ein Tsunami, so kam es ihr vor, ihre schöne, heile Welt vernichtet hatte. Und sie saß nun vor den Trümmern, unfähig, daraus wieder etwas aufzubauen.
Das Schlimmste war, dass Werner und sie sich seit diesem Zwischenfall so fremd geworden waren. So etwas hätte Inge niemals für möglich gehalten. Sie waren doch immer durch dick und dünn gegangen, hatten gemeinsam an einem Strang gezogen.
Es waren die Schuldgefühle, die sie beide hatten, durch die sie sprachlos geworden waren.
Wie sollte es mit ihnen weitergehen?
Wie sollte es überhaupt weitergehen?
Würden sie in ihrem Chaos der Gefühle, das sich allmählich auch außen abzeichnete, versinken?
Am liebsten hätte Inge sich jetzt einen Kaffee gekocht, doch das verkniff sie sich, seit sie festgestellt hatte, dass ihr Ruhepuls meist höher als neunzig war. Das war bedenklich, und deswegen schränkte sie wenigstens ihren übermäßigen Kaffeekonsum ein, der auch dazu beitrug. Ihren Blutdruck wollte sie gar nicht erst messen. Aber sie spürte es, dass auch er weit über dem Normbereich lag. Schlafen konnte sie auch nur sehr schlecht, und es gab nächtliche Unterbrechungen, bei denen ihre Gedanken anfielen wie eine Horde wilder Tiere.
Es musste etwas geschehen.
Und am besten würde sie sich gründlich von Frau Dr. Steinfeld untersuchen lassen, und die konnte ihr auch etwas für die Nacht geben. Sie schätzte die Ärztin sehr und war von deren Qualitäten überzeugt. Aber sie hatte eine Scheu, zu ihr zu gehen, seit sie Bambi, die nur noch Pam genannt werden wollte, bei sich aufgenommen hatte, nachdem sie ihr vorher frierend in der Nacht vor einer Bushaltestelle aufgefallen war.
Da hatte ihr Unglück seinen Anfang genommen, und seither war ihr Leben nur noch Grau in Grau.
Werner befand sich auf einem Kongress im Ausland. Streiten konnten sie sich heute nicht, und kochen musste sie auch nicht. Aber wie sollte sie den Tag herumbringen? Nach draußen gehen konnte sie nicht. Dazu war das Wetter zu schlecht. Sonst wäre sie um den See gelaufen.
Und mit Luna herausgehen musste sie auch nicht, seit Pam weg war, zog die kleine Labradorhündin es vor, lieber nebenan zu sein, bei ihren Eltern. Und das lag ganz gewiss nicht nur an den Leckerli, die sie dort bekam, sondern weil sie die depressive Stimmung hier im Haus nicht aushalten konnte. Hunde waren feinfühlige Wesen, die die Stimmung ihres Herrchens oder Frauchens gut erkannten. Und seit Bambi, ach nein, Pamela weg war, war auch etwas mit Luna geschehen. Sie war sehr viel ruhiger geworden und rannte, wenn sie im Haus hier war, immer wieder zur Tür, in der Hoffnung, ihre Freundin könne jeden Augenblick hereinkommen. Auch der Hund litt. Klar, Luna war auf Bambi fixiert. Inge seufzte, sie würde sich nie daran gewöhnen, dass sie nicht Bambi heißen wollte. Schließlich hatte sie den weißen Labrador nach dem Tod ihres geliebten Jonny aus dem Tierheim geholt. Am Anfang war es nicht so einfach gewesen, weil die Kleine den Spielgefährten, den treuen Freund ihrer Kindheit, nicht vergessen konnte. Aber dann waren sie die allerbesten Freunde geworden, bis …
Bis das geschehen war, was alles durcheinandergebracht hatte.
Inges Augen füllten sich mit Tränen, und sie wirbelte herum, als eine Frauenstimme ungehalten sagte: »Sitzt du auf deinen Ohren? Ich habe beinahe die Klingel abgerissen, so oft habe ich geschellt. Ich musste wieder nach nebenan gehen, um meinen Schlüssel zu holen, sonst stünde ich noch immer vor der Haustür. Inge, so geht es nicht weiter.«
Inge drehte sich um. Ihre Mutter war gekommen. Ihre Eltern wohnten direkt nebenan. Eigentlich war das ein Segen, und sie waren darüber alle sehr glücklich gewesen. Aber seit Pamela weg war, gab es auch mit ihren Eltern Differenzen.
Magnus und Teresa von Roth liebten ihre einzige Tochter über alles, aber sie konnten nicht begreifen, dass sie sich jetzt so hängen ließ.
Teresa setzte sich, Inge erkundigte sich, ob sie etwas trinken wolle. Das verneinte Teresa.
»Inge, ich bin nicht auf einen Plausch rübergekommen, sondern weil dein Vater und ich uns ernsthafte Sorgen machen. Eure Jüngste ist nicht tot. Sie lebt derzeit bei ihrem Bruder in Australien. Und das ist gut so. Besser dort als irgendwo in einem Kinderheim oder Internat. Und dass es so gekommen ist, das liegt an der Sorglosigkeit von Werner und dir. Ich will dir keine Vorwürfe machen. Aber alles, was geschehen ist, habt ihr zu verantworten. Werner und du, ihr seid zwei intelligente Menschen. Werner kann ganze Säle mit seinen Vorträgen füllen und die Zuhörer begeistern. Aber was eure jüngste Tochter betrifft, da habt ihr euch unverantwortlich benommen.«
Inge hielt