Inge sah wohl so kläglich drein, dass Teresa, ehe sie ging, ihre Tochter umarmte.
»Kopf hoch, mein Kind. Du schaffst es«, dann ging sie. Hochaufgerichtet und schnell wie ein junges Mädchen.
Ja, sie wäre wirklich gern wie ihre Mutter. Die nahm das alles auch sehr mit, denn sie hing an ihrem jüngsten Enkelkind, und zwischen ihr und Bambi war immer etwas Besonderes gewesen.
Kein einziger Laut des Jammerns war bislang über ihre Lippen gekommen. Sie stand mehr als alle anderen mit Hannes in Verbindung und versuchte, möglichst viel zu erfahren. Ja, so war sie.
Magnus von Roth saß in dem überaus gemütlichen und sehr stilvoll eingerichteten Wohnzimmer und spielte hingebungsvoll mit Luna, die nicht genug davon bekommen konnte, einem kleinen roten Ball nachzujagen.
Er hörte sofort damit auf, als seine Frau in den Raum kam. Das gefiel Luna überhaupt nicht, sie versuchte mit Bellen, ihn dazu zu bewegen, wieder mit dem Spielen anzufangen. Als das nicht geschah, verzog sie sich beleidigt unter den Tisch.
Magnus blickte seine Frau an, dann sagte er bekümmert: »Meine Liebe, ich sagte dir doch, nicht hinzugehen, weil das überhaupt nichts bringt. Unsere Inge ist erwachsen, und du weißt auch, welchen Dickkopf sie hat. Den hat sie leider von meiner Mutter Henriette geerbt. Du siehst richtig mitgenommen aus, und hat es dir etwas gebracht?«
Teresa warf ihrem Mann einen liebevollen Blick zu, ihrem besten Freund, mit dem sie durch dick und dünn gegangen, und daran hatte sich bis heute nichts geändert.
Sie zuckte die Achseln.
»Ich weiß nicht, ob ich sie ein wenig zur Vernunft bringen konnte. Aber man muss es ihr doch sagen, sonst zerfleischen sie sich gegenseitig, weil sie sich beide schlecht fühlen. Heute Abend wird sie auf jeden Fall zu uns kommen, mit uns essen, und dann werden wir einen Spieleabend machen.«
»Da muss sie erst einmal hier sein«, bemerkte Magnus, der seine Tochter kannte, die an sich ein sehr liebevoller Mensch war, was sich allerdings rasch änderte, wenn sie sich in die Ecke gedrängt fühlte. Im Augenblick war mit ihrer Tochter nichts anzufangen, und deswegen zog er es vor, sich aus allem herauszuhalten. Er hatte sich früher bereits mehr als nur einmal den Mund verbrannt, als er seine Tochter gedrängt hatte, ihrer Jüngsten endlich die Wahrheit zu sagen. Niemand musste aus einer Adoption etwas Ehrenrühriges machen. Im Gegenteil, es war gut, dass es Leute gab, die bereitwillig ein fremdes Kind zu seinem eigenen machten und ihm das triste Leben in einem Waisenhaus ersparten. Und das Kind hatte ein Recht darauf zu erfahren, wer seine leiblichen Eltern waren.
»Teresa, vielleicht kann ich dich ein wenig aufmuntern, indem ich dir sage, dass unser Hannes sich gemeldet hat. Er hatte diesmal viel zu sagen und hat auch ganz schöne Bilder geschickt. Ich denke, alles wird gut. Unsere Kleine sieht auf den Fotos recht zufrieden aus. Hannes hat sie sogar auf ein Surfbrett gestellt, und es scheint ihr Spaß zu machen. Auf jeden Fall hat sie das Lachen wieder gelernt. Ja, unser Hannes, der ist schon ein Teufelsbraten. Er ist großartig und hat mit seinen jungen Jahren eine ganze Menge Verantwortung auf sich geladen. Wenn man denkt …«
Er brach seinen Satz ab, als er merkte, dass seine Frau ihm überhaupt nicht mehr zuhörte. Sie wollte natürlich erst einmal wissen, was es aus dem fernen Australien für Neuigkeiten gab, und deswegen stürzte sie sich erst einmal auf den Computer. Ja, Magnus hatte recht, Pam, auch sie musste sich erst daran gewöhnen, fand es aber okay, ja, die machte wirklich einen zufriedenen Eindruck, und sie schien auch ein wenig in die Höhe geschossen zu sein, auf jeden Fall hatte sie ihre Haare abgeschnitten. Daran musste man sich erst einmal gewöhnen, aber es sah gut aus. Pam sah immer gut aus, sie war ein wunderschönes Mädchen, und wenn sie erst einmal ein bisschen älter war, würden sich die Jungen um sie reißen.
Teresa las die Zeilen von Hannes immer wieder, und sie vertiefte sich mehr als nur einmal in die Fotos, die Unbeschwertheit und Lebensfreude verrieten. Hannes sah aus wie ein Pirat. Seine Haare waren ausgebleicht von der Sonne, und seine ausdrucksstarken Augen strahlten aus seinem gebräunten Gesicht noch mehr als sonst.
Teresa war eine stolze Großmutter. Sie mochte all ihre Enkel, auch die beiden Großen. Aber die beiden Jüngsten hatte sie am meisten in ihr Herz geschlossen. Vermutlich, weil die auch die längste Zeit im Sonnenwinkel in ihrer Nähe verbracht hatten.
»Schatz, auch wenn du es hundertmal liest, es kommt nicht mehr als das, was unser Hannes geschrieben hat«, sagte Magnus.
Teresa wandte sich vom Computer ab.
»Du hast recht, aber es ist wunderschön, und an den Bildern kann man sich nicht sattsehen. Ich hoffe nur, dass Hannes diese Bilder auch an seine Eltern geschickt hat. Das müsste ja die Laune unserer Tochter verbessern. Du kannst ja heute Abend auch noch einmal mit ihr reden, Magnus. Auf dich hört sie.«
Magnus von Roth lachte.
»Nicht mehr als auf dich. Aber meinetwegen. Wenn sie nur nicht so verflixt stur sein würde. Werner und Inge sollten jetzt wirklich aufhören, das Thema immer weiter breitzutreten, sonst steht irgendwann bei den beiden noch eine Scheidung ins Haus.«
Sofort wehrte Teresa ab.
»Das glaube ich nicht, dafür lieben sie sich viel zu sehr. Aber jetzt muss wirklich Schluss sein. Was ist, hast du auch Lust auf einen Kaffee? Ich habe mich nicht getraut, drüben bei Inge danach zu fragen. Du weißt ja, sie soll ihren Kaffeekonsum einschränken, sie ist hibbelig genug. Aber ich glaube, da ist sie ganz vernünftig.«
Teresa lachte ihren Mann an.
»Und sag mir jetzt bitte nicht, dass sie das von dir hat. Alle schlechten Eigenschaften und Gewohnheiten sind von mir, das Positive hat sie natürlich von dir.«
»Ist doch so«, sagte Magnus vergnügt. »Aber ja, einen Kaffee hätte ich jetzt gern. Und wenn du dann vielleicht dazu auch noch ein kleines Stückchen von diesem köstlichen Schokoladenkuchen hast, den würde ich auch nicht ablehnen.«
Luna kam unter dem Tisch hervor, folgte Inge zur Küche.
Die drehte sich an der Tür noch einmal um. »Luna und du, ihr seid beide mit Süßigkeiten und Naschereien zu locken. Guck sie dir an, sie will natürlich ein Leckerli haben.«
Luna bellte, was auf jeden Fall Zustimmung bedeutete.
Teresa beugte sich hinunter, streichelte die entzückende kleine Labradorhündin, die so klein auch nicht mehr war, mit ihrem weißen Fell sah sie sehr besonders aus, und sie hatte einen wunderschönen Kopf.
»Ja, du bist schon ein schönes Mädchen«, sagte Teresa, »und lieb bist du auch, und deswegen hast du ein Leckerli verdient.«
Luna begann mit dem Schwanz zu wedeln, aufgeregt zu bellen.
»Ein Leckerli, verstanden«, sagte Teresa, und dann musste sie lachen, weil Luna wie ein kleiner weißer Blitz an ihr vorbeischoss und sich erwartungsvoll vor dem Schrank aufstellte, in dem die Leckerli in einem Glas untergebracht waren.
Teresa war es ganz recht, dass Luna sich bei ihnen einfach ein quartiert hatte, das zwang sie, morgens mit ihr herauszugehen, denn ihr Magnus war ein Langschläfer, und deswegen war er für die Abendspaziergänge zuständig, zu einer Zeit, in der sie längst im Bett war. So sehr sie sich auch liebten, so gut sie sich auch verstanden. Und sie waren sich in fast allem einig. Etwas, was im Alter immer deutlicher wurde. Aber in einem waren sie sich vom ersten Augenblick an verschieden gewesen. Teresa war eine Frühaufsteherin, und sie war sofort putzmunter, wenn sie die Augen aufschlug, während ihr Magnus eine Nachteule war.
Luna begann zu bellen, weil Teresa sich zuerst mit ihrer Kaffeemaschine beschäftigte. Sie unterbrach ihre Tätigkeit, holte das begehrte Glas heraus, und dann blieb es doch nicht bei dem nur einen Leckerli.
Konnte man einem solchen Blick widerstehen?
Teresa konnte es auf jeden Fall nicht, und das trug ihr bei Luna noch mehr Sympathiepunkte ein. Allerdings nur solange Magnus nicht in der Nähe war. Teresa konnte darauf wetten, dass