Das Böse ruht nie. Marion Petznick. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marion Petznick
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783946734369
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die Tasche immer noch unberührt am Strand. Sie hob einen zufällig neben der Tasche liegenden Stock auf und stocherte in der Tasche herum. Dabei kamen nicht nur ein Handy und ein Portemonnaie zum Vorschein, sondern mehrere typische Frauenutensilien, wie Bürste, Lippenstifte und Schminkzeug. Vorsichtig hob sie mit einem Taschentuch das Portemonnaie auf und schaute nach einem Ausweis. Tatsächlich, sie fand eine Karte mit einem Namen darauf. Zufrieden steckte sie alles in die Tasche zurück und beeilte sich zu ihrem Auto zurück zu kommen. Während sie den langen Weg zurücklief, überlegte sie, ob sie den Namen schon einmal gehört hatte.

      In den letzten Jahren musste ich oft daran denken, was du mir angetan hast, als ich noch ein Kind war. Gerade fünf Jahre alt war ich damals. Mit diesen seltsamen Spielen begann alles. Zuerst musste ich mich auf deinen Schoß setzen. Die ersten Male fühlte sich das ganz harmlos an. Schnell wolltest du mehr und deine Berührungen wurden intensiver. Mit deiner starken Stimme hast du mich gemahnt, ruhig zu bleiben. Diese Berührungen fühlten sich für mich immer falsch an. Mutter bekam nichts mit. Ob sie etwas wusste, werde ich wohl nie erfahren. Vielleicht aber hatte sie auch ganz bewusst die Augen verschlossen. Ich habe sie nie danach fragen können. Später wurde dein abartiges Spiel fast zur Normalität.

      Heute steht nur noch der Sessel, auf dem du mich quältest, verlassen auf seinem Platz, neben dem Fenster. So wie immer. Er erinnert mich an meine schlimmsten Tage und Nächte. Doch gibt es von diesem Sessel aus auch die beste Sicht in den Wald, weit hinein, bis zu unserem Versteck.

      Als ich damals plötzlich ohne Ankündigung allein zurückblieb, fühlte ich mich schlecht. Ich war ein Kind und blieb mit zu vielen Fragen allein zurück. Lange Zeit wollte mir nichts mehr gelingen. Wie gelähmt war ich, meine bis dahin vertraute Welt brach wie ein morscher Baum einfach in sich zusammen. Nichts, was mit mir passierte, hatte ich wirklich verstanden. Ein unerträglicher Zustand, der mich mehr und mehr mürbe und einsam werden ließ.

      Ich erinnere mich, dass ich erst viele Wochen nachdem ich allein zurückblieb, mich wieder auf den Weg in die Höhle machen konnte. Mit dem was ich sah, konnte ich allein nichts anfangen. In diesem Loch spürte ich zum ersten Mal eine wahnsinnige Einsamkeit. Ein Zustand, den ich bis dahin nicht benennen konnte. Seitdem bin ich praktisch stumm und mache alles nur noch mit mir allein ab. Mit wem hätte ich denn damals sprechen sollen?

      Später, viel später, es war an einem düsteren Wintertag, da wurde mir plötzlich klar, dass ich das begonnene Werk allein zu Ende bringen musste, auch wenn es deine Idee war. Ob ich will oder nicht, damit werde ich auch dein begonnenes Werk vollenden. Vielleicht wirst du das Ergebnis irgendwann ja sehen? Wie du staunen wirst. Alles ist so, wie du es mir einst beigebracht hast. Du wirst erkennen, dass ich deine Regeln befolgt habe. Inzwischen bin ich viel geschickter und traue mir mehr zu.

      Wenn ich dir früher zusah, fühlte ich, wie tief du mit dieser Arbeit verbunden warst. Und nur hier war es, wo ich dein zweites Gesicht erlebte. Du warst ganz anders als zu Hause. Du hast mich, glaube ich, sogar als gleichberechtigten Partner gesehen, nicht als deinen Sohn. Und ich war stolz, weil du mich in deinen geheimen Plan eingeweiht hattest. Ich wollte von dir lernen und beobachtete ganz genau jeden deiner Handgriffe. Selbst deine dunkle Seite konnte ich in diesen Stunden mal vergessen.

      Viel später entdeckte ich, dass ich einige deiner Gewohnheiten übernommen hatte. Weißt du noch am Wochenende dein morgendlicher Trott durch den Wald? So wie du früher, mache ich mich jetzt auch an jedem Freitag im Haus zu schaffen. Ich lebe im Einklang mit gewohnten Beschäftigungen, das bekommt meinem Seelenleben gut. Ekel überkommt mich nur, wenn ich in den Spiegel sehe. Ich sehe DICH in meinem Spiegelbild. Mir ist als schaute ich in deine Augen. Lange ertrage ich diesen Anblick nicht mehr. Stattdessen würde ich manchmal lieber das Haus verlassen, genau wie du und Mutter damals. Dann kam mir eine Idee, die sich breit und breiter machte. Ein Gedanke, der mich wieder an das Haus kettete. Bist du meinetwegen fort? Vielleicht erfahre ich die Wahrheit nie.

      Du sagtest einmal, dass du mich auf die Probe stellst und mir deshalb die Schmerzen zufügst. Du meintest, weil ich dir so viel bedeute, musste das sein. Muss ich noch mehr dafür tun? Bestimmt bist du in der Nähe und beobachtest mich. Du wirst doch wissen wollen, ob dein Sohn dir nacheifert und dein Werk vollendet?

      Was ich bisher da unten geschafft habe, könnte auch für dich eine Genugtuung sein. So dicht bin ich an dein Konzept herangekommen. Etwas fehlt noch. Das werde ich auch noch schaffen. Ich bin mir sicher!

      Rostock, Polizeirevier am Hafen

      Lisa fuhr im Tempo ihrer Kollegen und steuerte die Richtung ihres Lieblingskaffees an. Voller Vorfreude spürte sie bereits den feinen Duft eines Latte Macchiato in ihrer Nase. Sie stieg gerade aus, als ihr Handy zum ersten Mal an diesem Tag einen Ton von sich gab.

      Etwas schrill der Ton, dachte sie noch, bevor eine feste Stimme sie fast anschrie, noch bevor sie „Liebich“ sagen konnte. Geschickt hielt sie das Handy unterm Kinn und schloss nebenbei ihr Auto ab.

      „Gut, dass ich Sie erwische, Frau Liebich. Können wir uns heute noch in der Dienststelle sehen? Sie haben zwar frei, aber ließe sich das einrichten?“

      „Sie haben es aber sehr eilig. Hat das etwa mit der vermissten Frau zu tun?“

      „Wie, das wissen Sie …?“ Aufmerksam hörte sie den knappen Worten ihres Chefs zu.

      „Klar, ich komme. Bin schon unterwegs. Etwa in einer halben Stunde könnte ich am Hafen sein.“ Ihr fiel auf, dass ihr Chef in Rätseln sprach. So kannte sie ihn gar nicht und fand, dass er sich genauso bedeckt hielt, wie die beiden Kollegen am Mittelweg. Was hatte das zu bedeuten? Mit den wenigen Details ließ sich nicht wirklich viel anfangen. Allerdings dachte sie, dass der Chef sie noch nie in die Dienststelle zitiert hatte, wenn es keinen wirklichen Grund dafür gab. Bevor sie antworten konnte, sagte ihr Chef: „Kommen Sie erst mal her, dann sehen wir weiter.“ Seine letzten Worte hallten noch in ihren Ohren nach. Das emotionale Durcheinander noch eben vom Strand schien wie weggeblasen. Sie musste über sich selbst lächeln. Wie meist, Probleme können sich einfach in Luft auflösen. Sie gab kräftig Gas und bei dem Tempo hätte sie bei einer Kontrolle größte Chancen ein paar Punkte einzusammeln.

      Auf Höhe von Karls Erlebnis-Dorf begegneten sich Lisas gelber Flitzer und der BMW von Hauptkommissar Peter Heilmeyer. Beide waren auf halber Strecke nur in entgegengesetzter Richtung zwischen Rostock und Graal-Müritz unterwegs. Keiner nahm vom anderen Notiz, sie wussten noch nicht, dass sie bald gemeinsam in einem Team arbeiten würden. Zuvor waren sie sich nie begegnet!

      Vor einigen Monaten hatte sich Lisa für ein Praktikum im Kriminalkommissariat Rostock beworben. Ihr Antrag wurde erst vor wenigen Tagen bewilligt. Gleich nach dem Urlaub plante sie ins Kriminalkommissariat zu wechseln. So wenigstens war ihr Plan vor dem Studium. Wenige Tage blieben ihr nur noch im alten Revier und sie musste an die letzten Jahre denken: Eigentlich schade, dass ich gehe. Der Chef war in Ordnung und mit den anderen lief es auch gut. Veränderungen sind mal wichtig und wie es aussieht, könnte mein Praktikum mit einem speziellen Fall beginnen. Alles Mögliche kreiste in ihrem Kopf und sie drückte gleich noch einmal aufs Gaspedal.

      Lisa konnte jetzt die letzten Traditionssegler erkennen und musste an ihre eigene Ausfahrt während der Hanse Sail denken. Eine unvergleichliche Pracht, diese maritime Kulisse am Rostocker Stadthafen. Einige Segler waren noch immer zur Besichtigung freigegeben und boten regelmäßig Rundfahrten an. Von der Warnow aus gab es einen spektakulären Anblick auf die Stadt. Ein Luxus, dass sie jeden Tag diesen traumhaften Anblick genießen konnte. Gab es einen besseren Arbeitsplatz?

      Viele Jahre fuhr sie immer wieder diesen Weg und alles rundherum war ihr vertraut. Jemand, der die maritime Kulisse liebt, wird jedes Jahr aufs Neue beeindruckt sein. Hanse Sail bedeutete, dass jeder Platz am Kai bis in die dritte Reihe mit Schiffen besetzt war. Um die 200 Segler trafen sich regelmäßig zu diesem maritimem Großereignis, dass jedes Jahr am zweiten Wochenende im August stattfindet. Lisa hasste jede Art von Sentimentalitäten und dachte weise, dass dieses tolle Spektakel in Rostock ihr auch ohne die Dienststelle jedes Jahr erhalten bleiben würde. Nur um die Leute tat es ihr leid, die vielen Jahre kam sie ohne irgendwelche Streitereien oder Missverständnissen sehr gut klar. Wenn es die Zeit zuließ, würde sie hin und wieder mal bei ihnen vorbeischauen.

      Lisa