„In zwei Stunden werd ich abgeholt!“
„Na dann alles Gute.“
So schnell kann die Sonne aufgehen, mit nur einem Menschen, selbst wenn sich vor den Fenstern der Werkstatt dunkle Wolken zusammenbrauen.
Ewiger Kreislauf
Sie wird es nie vergessen, auch wenn es schon so lange zurückliegt.
Wie er noch ein paar Schritte lief, während sein Name gerufen wurde. Tariq!
Immer wieder.
Tariq!
Anfeuernd. Spöttisch.
Tariq! Tariq!
Kopflos. Da das Haupt. Dort der taumelnde Körper.
Wie ein Betrunkener.
Rundum Gelächter, Hohn.
„Los, weiter! Vielleicht schaffst du es noch ein Stück.“ Scharf wie der Säbel in seiner Hand drang Mehmets Stimme durch die Nacht. „Zwölf Meter waren es bei Störtebeker!“
Sie war zu klein damals, um es zu verstehen. Keine sechs Jahre alt.
Klaus Störtebeker. 1401. All jene Freibeuter-Kollegen sollten begnadigt werden, an denen er nach seiner Enthauptung noch vorbeizuspazieren vermochte, so der vereinbarte Handel. Nach elf Männern wurde ihm schließlich ein Bein gestellt und trotzdem jeder der Männer geköpft!
Legenden, die sich tapfer halten.
Dies nun aber geschah vor ihren Augen, war Wirklichkeit, Gegenwart. Ihr nahe. Viel zu nahe.
Zusammengekauert lag sie in einer dunklen Ecke hinter den Müllsäcken versteckt und sah das Gesicht ihres Bruders, seine sich bewegenden Lippen, als würde er einmal noch ihren Namen sagen wollen – „Anjeza!“ –, dazu seinen ungläubigen Augenaufschlag, den traurigen Blick, darin der Abschied, während ihm ein Stück entfernt zuerst sein Leib entwich und dann sein Leben.
„Gjumë të ëmbël!“, flüstert sie. „Schlaf gut.“
Den Kopf verloren, und somit alles, worum es geht.
Das Gesicht. Es zu wahren.
Die Ehre.
Sie ist mehr wert als das Leben selbst, kann, einmal beschmutzt, reingewaschen werden mit nur einer Substanz: Blut. Versiegt es dort, entspringt es da. Legt die Pflicht zur Rache von einer Familie in die Hand der anderen. Macht aus Jägern Gejagte, aus Gejagten Jäger.
Seit Menschengedenken festgeschrieben im Gesetz der Berge. Dem Gewohnheitsrecht, das über jeder Ordnung steht.
Blut fordert Blut.
Neues Blut.
Immer wieder.
Sucht sich seinen Weg.
Ein Ring, sie zu knechten
Hektisch sausen die Scheibenwischer, hin und her und her und hin, chancenlos, der herabstürzenden Fluten Herr zu werden. Kaum ein Mensch auf den Straßen, und wenn doch, dann wird gelaufen, geduckt und eng an den Hausmauern entlang, denn was die vorbeisausenden Autoreifen da an Fontänen auf den Gehsteig jagen, demontiert jeden Schirm zum Mode-Accessoire.
Wortlos und gefasst lenkt Hausmeister Petar Wollnar den Wagen durch die Stadt.
Richtig adrett hat er sich herausgeputzt, zwar wie meist mit blauem Zweiteiler, aber diesmal nicht im Arbeits-, sondern nur im Anzug. Darunter ein weißes Hemd, samt einer Krawatte, deren ausgebleichtes Blumenmuster schon in voller Farbfrische nicht wirklich schöner war. Aber was zählt das schon?
Auf die Absicht kommt es an.
Und die könnte wohl besser kaum sein.
Gut gelaunt ist er. Eine Heiterkeit, die ihm hoch angerechnet werden muss, denn viel erbarmungsloser kann sich der Himmel kaum zeigen. Wenn es doch wenigstens nur ein Schnürlregen wäre, ein zartes Anstreichen, ein Kitzeln der Wange.
Aber nein.
Dicke Tropfen stürzen da herab, 21, 22, 23, waschelnass.
Petar Wollnar jedoch ist vorbereitet, mit Schirm, Charme und Pritschenwagen. Einmal mehr nach einer Zitterpartie mit der §57a-Begutachtungsplakette versehen und als Draufgabe von seinem Mechanikerfreund Miłosz Grabowsky frisch innengereinigt, steht sein alter Kübel in zweiter Spur. Da liegt kein Krümel mehr auf der Polsterung, stecken keine Wurstsemmelreste in Alufolie und kein eingetrockneter Kaffeebecher im Getränkehalter.
Und sogar pünktlich war er. Auf die Minute genau. Was in seinem Fall einem Wunder gleichkommt, denn eine Langsamkeit ist ihm zu eigen, sowohl sprachlich als auch motorisch, da muss ein Mensch schon ordentlich Zeit mitbringen.
„Alles gut?“
„Besser geht’s kaum!“, lässt ihn Willibald Adrian Metzger wissen.
„Wie viel?“
„3000 glatt. Ohne Rechnung. Er hat sich ein Großraumtaxi kommen lassen und den Sessel gleich mitgenommen.“
„Schöner kann der Tag nicht anfangen, oder? Und nach Hause darfst du auch bald wieder!“, bemerkt der Hausmeister aus durchaus egoistischen Gründen, denn selbstverständlich ist ihm der Metzger abgegangen. Wen hat er auch sonst, außer sein Stiegenhaus. „Und freust du dich schon?“
„Worauf?“
„Na, worauf?“, kommt Petar Wollnar einer seiner seltenen Schmunzler aus. Dazu wiederholt er wortgetreu, was dem Metzger von seiner Danjela zum Abschied durchs Stiegenhaus hinterhergerufen wurde: „Ach Willibald. Sehen wir uns erst wieder in vierzehn Tage. Na ja, steigert sich wenigstens Vorfreude auf Hochzeitsnacht!“
Und jetzt schmunzelt auch der Metzger.
Optimismus in Reinkultur, so etwas. Anzunehmen, nach 13 gemeinsamen Jahren Beziehung reicht ein zweiwöchiger Liebesentzug, um es vor lauter Libido gar nicht mehr auszuhalten. Und das mit über 50 und ohne Tabletten.
„Hoffentlich will sie mich noch.“
„In so einem feschen Anzug! Sicher. Hier!“, reicht ihm Petar Wollnar eines dieser kleinen Fläschchen, wie sie zuhauf neben Supermarktkassen stehen. „Trauzeugenservice. Das braucht man als Bräutigam.“
„Wodka? Und damit wird alles leichter?“
„Nicht alles!“, amüsiert sich der Hausmeister und zwickt sich selbst in den Bauch. „Und jetzt trink!“
„Ich mein es ernst, Petar. Ich bin die letzte Zeit immer fetter geworden und Danjela immer schlanker!“
„Schlanker und gereizter. Aggressiv sogar! Und das ist besser?“
„Aber was ist los mit ihr?“
„Ich hab meine eigene Frau schon nie verstanden, glaubst du, ich versteh deine? Hauptsache, euer gemeinsames Leben geht weiter. Ein Ring ändert nichts.“
Ruckartig reißt es den Metzger hoch, panisch: „Verdammt!“
Und Petar Wollnar versteht sofort. „Besser, du kommst jetzt drauf. Ist kein großer Umweg“, bleibt er zumindest äußerlich gelassen.
Blut und Eisen
„Was ist los, Friedmann? Stromausfall?“
„I denk nur nach! Des Hirnschmoiz braucht eben a bisserl, bis es woarm wird, bei dem Sauwetter.“
„Obs wirklich am Wetter liegt? Ich helf Ihnen besser auf die Sprünge, bevor nichts dabei rauskommt. Also passen