Bettina schüttelte den Kopf. Der Appetit war ihr vergangen, und sie fühlte eine unendliche Traurigkeit in sich aufsteigen, weil ihr Vater offensichtlich zu keinem seiner Kinder so viel Vertrauen gehabt hatte, um mit ihnen über das zu sprechen, was ihn wirklich bewegte. Gut, Frieder und Jörg hätten es nicht verstanden, Grit auch nicht, die war eine richtige Stadtpflanze, aber sie, Bettina, sie liebte Fahrenbach, den Hof… aber sie hatte sich dem allem wegen Thomas verweigert. Und vermutlich hatte ihr Vater aus lauter Liebe zu ihr geschwiegen, um ihr das Herz nicht schwer zu machen.
»Leni, bekomm ich noch einen Kaffee? Den trink ich aber draußen… danke übrigens für das leckere Essen.«
»Du hast ja kaum etwas zu dir genommen«, grummelte Leni, »aber geh nur schon raus, ich bring dir den Kaffee.«
Das ließ Bettina sich nicht zweimal sagen. So gern sie Leni auch hatte, sie mußte jetzt allein sein, und sie mußte versuchen, alles, was sie an diesem Vormittag gehört hatte, zu verarbeiten. Ihr Vater erschien ihr auf einmal in einem ganz anderen Licht.
*
In den nächsten Tagen war Bettina sehr viel unterwegs, entweder mit dem Fahrrad, oder sie machte lange Spaziergänge, dann immer begleitet von Hektor. Oder sie fuhr mit dem Auto in die Nachbarorte, die sich streckenweise rasant zu mondänen Urlaubsorten entwickelt hatten, mit schicken Restaurants und exklusiven Geschäften.
Nach solchen Ausflügen war sie allerdings froh, wieder in das beschauliche Fahrenbach zu kommen.
Das war eher ihre Welt. Sie fühlte sich ausgesprochen wohl, ja, eigentlich konnte sie sogar sagen, sie war hier glücklich. Dennoch war sie sich noch immer nicht sicher, wie alles weitergehen sollte.
Sie beneidete Linde, die sich so klar für die Übernahme des Gasthofs entschieden hatte, als der Zeitpunkt für sie gekommen war, die Verantwortung dafür zu übernehmen, auch wenn das ihre Pläne durchkreuzt hatte. Vermutlich lag das aber auch daran, daß Linde fast ihr ganzes Leben in Fahrenbach verbracht hatte und allem noch viel mehr verbunden war als sie, die nur ihre Ferien hier verbracht hatte und seit mehr als zehn Jahren diesen Ort sogar gemieden hatte wie die Pest.
Wenn sie nicht verkaufen würde, und das stand außer Frage, könnte sie den Hof als Feriendomizil betrachten, eine kostspielige Angelegenheit, die sie sich nicht leisten konnte, oder sie mußte ihr bisheriges Leben aufgeben und auf den Fahrenbach-Hof ziehen.
Aber… ach, die vielen abers…
Sie mußte von etwas leben und einer Beschäftigung nachgehen.
In Steinfeld, im Steuerbüro Fischer, hatte sie erfahren, daß ihr Vater mit seiner kleinen geheimen Produktion einen ganz ordentlichen Gewinn gemacht hatte. Nun ja, vom ökologischen Prinzip her betrachtet, war es eine phantastische Sache gewesen – er hatte unter Einsatz geringer Mittel einen großen Nutzen erzielt. Jedoch kannten weder Arno noch Toni die Rezeptur für das Kräutergold. Sie wußten nur, daß mehr als hundert Kräuter, Früchte und Gewürze darin enthalten waren. Das war auch ihr bekannt, aber wie es gemixt werden mußte, davon hatten die beiden keine Ahnung, und sie leider auch nicht.
Ob ihr Vater ihre Brüder eingeweiht hatte? Sie mußte mit ihnen reden. Oder vielleicht hatte er bei Dr. Limmer etwas hinterlegt.
Auf jeden Fall wäre die Produktion von Kräutergold ein Standbein. Es gab auch die Pachteinnahmen für die Wiesen und Felder und den Bootshafen. Das war nicht schlecht, aber nicht genug, um davon alles zu unterhalten und um davon zu leben.
Was also sollte sie tun?
Die Remise, die Tenne und die Nebengebäude boten sich an, Ferienappartements zu bauen. Da die Orte ringsum sich auf Gäste der gehobenen Einkommensklassen eingestellt hatten, könnte sie sich auf Familien mit Kindern, junge Gäste, die noch nicht soviel verdienten oder Gäste mittleren Einkommens konzentrieren. Damit würde sie bestimmt eine gute Auslastung erreichen. Die Lage war ebenso hervorragend wie in den teuren Orten, und einen See hatten sie auch, sogar ihren eigenen.
Aber wollte sie das?
Was wohl hatte ihr Vater sich dabei gedacht, als er sich entschieden hatte, ihr den Fahrenbach-Hof zu vererben. Er kannte ihre finanzielle Situation, und er kannte sie auch gut genug, zu wissen, daß sie nicht verkaufen würde. Doch wie sollte sie alles finanzieren? Welch ein Glück, daß ihr Vater wenigstens Leni, Arno und Toni versorgt hatte. Die standen ihr als Arbeitskräfte zur Verfügung, ohne daß es sie etwas kostete. Aber womit sollte sie sie beschäftigen?
Bettina schob eine Entscheidung erstmal auf. Vielleicht sollte sie auch mal mit Linde darüber reden. Sie hatten sich mittlerweile einige Male getroffen und verstanden sich so gut wie früher. Von Linde erfuhr sie auch alles mögliche über Fahrenbach und seine Bewohner, und sie traf auf Leute, die sie von früher kannten, an die sie sich aber nicht erinnern konnte. Alle waren sehr freundlich zu ihr, aber vielleicht lag das auch daran, daß ihr Vater eine unglaubliche Wertschätzung erfahren hatte.
Bettina holte ihr Fahrrad aus dem Schuppen, winkte Toni zu, der gerade über den Hof gelaufen kam, dann radelte sie davon.
Zu ihrer Enttäuschung war Linde nicht da.
Sollte sie die Gelegenheit nutzen, um endlich am Sägewerk vorbeizufahren und sich bei Markus Herzog nach Thomas erkundigen?
Sie wollte es doch eigentlich, seit Linde ihr gesagt hatte, daß Markus noch Verbindung zu Thomas hatte. Warum also zögerte sie jetzt. Wahrscheinlich, weil sie feige war und Angst davor hatte, über Thomas etwas zu erfahren, was sie unglücklich machen würde. Aber noch unglücklicher, was ihn betraf, ging eigentlich nicht. Also schwang Bettina sich wieder auf ihr Rad und fuhr los.
Das Sägewerk, ein ganz beachtlicher Betrieb, lag am entgegengesetzten Ortsausgang. Auch hier hatte ein Generationswechsel stattgefunden. Markus hatte den Betrieb von seinem Vater übernommen und seine Schwester ausgezahlt, die in die Stadt gezogen war.
Je näher Bettina dem Sägewerk kam, um so langsamer radelte sie, und als sie fast dort angekommen war, bremste sie und stieg von ihrem Rad ab.
Ihr Herz klopfte dumpf, sie spürte, wie ihre Handflächen feucht wurden.
Was hatte sie eigentlich davon, wenn sie etwas über Thomas erfuhr?
Außerdem, vielleicht wußte Markus auch nichts mehr. Es war schließlich nur eine Vermutung von Linde gewesen.
Andererseits interessierte es sie brennend, etwas zu erfahren. Vielleicht konnte sie dann dieses Kapitel Thomas endlich beenden.
Sie sah, wie jemand die Treppe vom Büro herunterkam. Das mußte Markus sein…
Er blickte in ihre Richtung, um dann weiterzugehen. Sie war sich sicher, daß er sie nicht erkannt hatte. Panik kam in ihr hoch, und ehe sie es sich versah, drehte sie ihr Rad um, schwang sich darauf und radelte zurück.
Sie mußte Thomas vergessen.
Für immer.
Deswegen gab es überhaupt keine Veranlassung, etwas über ihn zu erfahren.
Sie wischte sich über die Augen und war zornig über sich selbst, daß sie jetzt auch noch anfing, seinetwegen zu weinen. Als hätte sie nicht schon genug Tränen vergossen…
*
In den nächsten beiden Wochen gestaltete Bettina das Haus um, insbesondere ihr Zimmer. Alle Möbel, die zuviel waren, räumten die Männer in die Remise.
Und dann kaufte sie für die Balkone rote Geranien, die sie zusammen mit Leni einpflanzte.
Und es war schon sehr komisch, als sie die letzte Blume eingepflanzt hatte, wußte sie, daß sie auf den Fahrenbach-Hof ziehen würde.
»Morgen fahre ich zurück«, sagte sie entschlossen.
»Und deswegen hast du hier alles so schön gemacht. Aber warum?«
Bettina lachte und umfaßte Leni.
»Ganz einfach, weil ich es schön haben möchte, wenn ich wiederkomme.«
Da ging ein