Bettina versuchte, wieder einzuschlafen, aber es wollte ihr nicht gelingen, sie war zu aufgewühlt. Also stand sie auf, um sich unten in der Küche eine heiße Milch mit Honig zuzubereiten.
Mit dem Becher in der Hand ging sie wieder nach oben, und einer spontanen Idee folgend, ging sie in das Zimmer ihres Vaters.
Sanftes Mondlicht schien in den Raum. Sie mußte nicht einmal Licht machen. Fast automatisch nahm sie in dem Ohrensessel Platz, auf den sie sich immer gesetzt hatte, wenn sie mit ihrem Vater hatte sprechen wollen.
Was waren es doch für törichte kleine Beschwerden gewesen, die sie vorzubringen hatte. Aber ihr Vater hatte ihr aufmerksam zugehört und ihr immer einen Ratschlag gegeben.
Mit kleinen Schlucken trank sie von ihrer Milch.
Wie wichtig wäre es jetzt für sie, mit ihm zu sprechen, ihn zu fragen, was sie tun sollte.
Sie war ja kaum angekommen und merkte schon, daß etwas in ihr geschah und das hatte nichts mit Sentimentalität zu tun.
»Ach, Papa«, flüsterte sie, während ihr die Tränen über das Gesicht rannen, »warum bin ich nur allen Gesprächen ausgewichen, die du auf den Fahrenbach-Hof bringen wolltest. Wie egoistisch ich doch war, nur mich zu sehen und mein kleines verletztes Ego. Und nun stehe ich da und weiß nicht, was zu tun ist.«
Sie stellte den Becher ab und kuschelte sich tief in ihren Sessel. Sie fühlte sich ihrem Vater auf einmal so nah, fast hatte sie das Gefühl, sein Rasierwasser riechen zu können, das scheinbar noch im Raum hing – diesen herben Duft nach Sandelholz und Gräsern.
Ein solcher Gedanke war natürlich töricht, aber sie wollte ihn nicht gehenlassen, weil er sie beruhigte. Ob ihr Vater oft in diesem Sessel gesessen und nachgedacht hatte? Worüber? Gewiß nicht über die Firma.
Während sie so dasaß, wurde Bettina erst einmal so richtig bewußt, daß sie eigentlich über die wahren Gefühle und Gedanken ihres Vaters überhaupt nichts wußte. Es schien, als habe er, nachdem seine Frau ihn verlassen hatte, sein Ich, den inneren Kern seines Wesens, sorgsam verschlossen, und sie hatte sich, obschon sie sich so nahe waren, niemals bemüht, dorthin vorzudringen.
Bettina begann haltlos zu weinen. Es schien, als könne sie erst hier, an diesem Ort, die wirkliche Trauer um ihren Vater zulassen.
Das Weinen erschöpfte sie so sehr, daß sie irgendwann einschlief und erst am nächsten Morgen fröstelnd und mit schweren Gliedern wach wurde und sich ächzend aus ihrem Sessel erhob.
Sie brauchte jetzt dringend eine heiße Dusche und danach einen Kaffee.
Aber vorher schaute sie sich im Raum noch einmal um. Leni schien nichts verändert zu haben. Über einer Stuhllehne hing eine grobgestrickte Weste ihres Vaters, an die sie sich noch sehr gut erinnern konnte. Sie nahm sie in die Hand und preßte ihr Gesicht hinein. Dann zog sie die Weste an.
So sah Leni sie, die gerade die Treppe hochgekommen war, beladen mit einem Tablett, auf dem eine Tasse verführerisch duftender Kaffee stand und ein Teller mit Rührei sowie Toast.
»Leni, du rettest mir das Leben«, rief Bettina und griff fast gierig nach dem Kaffee. »Das ist genau das, was ich mir gewünscht habe.«
»Hast du nicht gut geschlafen?«
Bettina schüttelte den Kopf.
»Nein, und dummerweise bin ich in Papas Zimmer gegangen und dort eingeschlafen – leider nicht im Bett, sondern im Ohrensessel.«
»Hast weinen müssen, nicht wahr? Aber das ist zu verstehen. Er war ein besonderer Mensch, und er fehlt uns auch, das mußt du mir glauben.«
»Er fehlt mir auch, und ich hätte an ihn noch so viele Fragen…«
»Weil du nicht weißt, wie es hier weitergehen soll, nicht wahr?« schien Leni ihre Gedanken erraten zu haben. »Aber weißt du, dein Vater hat dir den Hof nicht umsonst vermacht. Versuche nicht, eine Lösung zu erzwingen. Es wird sich finden. Genieße den Aufenthalt hier und betrachte es einfach als Urlaub, so wie es früher auch war.«
Ganz verblüfft schaute Bettina die Haushälterin an, so viel Weisheit und Menschenverstand hätte sie ihr gar nicht zugetraut. Aber das war wohl wieder auch so ein Vorurteil eines Städters, der glaubte, den Menschen auf dem Lande überlegen zu sein. Welch fataler Irrtum. Ganz gewiß waren Entscheidungen des Herzens aufrichtiger als die des Verstandes.
»Ich bin wirklich sehr gern hier, aber ihr drei bedeutet mir mehr, als du glaubst, aber ich…«
»Iß dein Rührei, ehe es kalt wird«, Lenis Stimme klang resolut, »und um einen klaren Kopf zu bekommen, solltest du einen langen Spaziergang machen.«
Dieser Gedanke begeisterte Bettina.
»Gibt es mein Fahrrad noch?« wollte sie wissen.
»Aber ja.«
»Dann mache ich gleich eine Radtour, so wie früher. Vielleicht kann der Toni ja nachsehen, ob die Reifen noch genug Luft haben.«
»Ich will es ihm sofort sagen, aber nun iß endlich dein Ei und gehe dann den Tag langsam an, Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut.«
Bettina mußte lachen, denn das war so typisch Leni.
Sie ging in ihr Zimmer. Rasch aß sie ihr Rührei und spülte es mit dem Rest ihres Kaffees hinunter. Das war ganz köstlich gewesen.
Aber nun hatte sie es eilig. Sie konnte es kaum erwarten, an die Plätze zu kommen, an denen sie sich früher so gern aufgehalten hatte. Und sie wollte auch ins Dorf radeln, um zu sehen, was sich dort verändert hatte.
Den Gedanken, auch die Orte aufzusuchen, an denen sie mit Thomas gewesen war, verwarf sie so schnell, wie er ihr gekommen war.
Nein, Thomas war ein extra Kapitel…
Obschon Bettina es hatte vermeiden wollen, die Erinnerungen an Thomas wachzurufen, tat sie genau das Gegenteil. Sie saß kaum auf ihrem Fahrrad, als sie es auch schon, wie magnetisch angezogen, in Richtung See lenkte.
Der See gehörte auch zum Fahrenbach-Hof, aber schon ihr Großvater hatte ihn der Allgemeinheit zugänglich gemacht. Im See durfte gebadet werden, geangelt. Es war eine Anzahl von Segelbooten zugelassen, Motorboote waren verboten.
Weil alles so streng reglementiert war, hatte der See seinen ursprünglichen Charme erhalten, ganz im Gegenteil zu den Seen in den umliegenden Orten, die mit Hotels und Bootshafen zugepflastert waren.
Auch die Fahrenbachs hatten ein kleines Bootshaus an der schönsten Stelle des Sees. Und das war Bettinas absoluter Lieblingsplatz. Hier hatte sie Stunden mit Thomas verbracht, sie hatten sich Gedichte vorgelesen, sich ihre gemeinsame Zukunft in den rosigsten Farben ausgemalt, hier hatten sie sich zum ersten Mal geküßt, und hier hatten sie sich auch ihre Liebe gestanden.
Aber unabhängig von Thomas hatte sie im See das Schwimmen gelernt, ihr Vater hatte ihr beigebracht, wie man mit einer Angel umging, und er hatte aus ihr eine ganz ordentliche Seglerin gemacht.
Als Bettina zwischen hohen Bäumen das Dach des Bootshauses durchschimmern sah, trat sie noch fester in die Pedalen. Sie konnte es kaum erwarten, dorthin zu kommen.
Als sie das Haus endlich erreicht hatte, lehnte sie ihr Fahrrad achtlos gegen einen Strauch, rannte um das Haus herum und drückte die Türklinke hinunter. Natürlich war abgeschlossen. Rasch kippte sie das hölzerne Namensschild nach oben und langte in die dahinterliegende Nische, in der der Schlüssel sich befand.
Sie schloß auf. Abgestandene Luft kam ihr entgegen. Hier mußte Jahre niemand gewesen sein. Etwas, was ihre Vermutung bestätigte, waren die Spinnweben, die es überall an den Wänden gab.
Bettina öffnete die Fenster, um frische Luft hereinzulassen. Als sie sich im Raum umsah, glaubte sie, ihr Herz müsse stehenbleiben. Auf einem der Stühle entdeckte sie den dunkelblauen Pullover, den Thomas bei ihrer letzten Begegnung getragen hatte.
Sie floh fast nach draußen und lief den Bootssteg entlang, unter dem das