Bettina glaubte, ihr Herz müsse stehenbleiben, als sie den Hof mit seinen zahlreichen Nebengebäuden erblickte, der geradezu majestätisch sich seinen Betrachtern präsentierte.
Noch nie zuvor, bei keinem ihrer Aufenthalte, waren Bettina die Schönheit der Landschaft, die Beschaulichkeit des Dorfes und die Würde des Fahrenbach-Hofes aufgefallen.
Mußte sie erst richtig erwachsen werden, um all das zu begreifen und zu schätzen?
Wie war es nur möglich gewesen, daß sie sich dieser Idylle dieser Welt, die scheinbar noch in Ordnung war, so lange entzogen hatte? Was war ihr nicht alles entgangen.
Eine tiefe Dankbarkeit ihrem Vater gegenüber überkam sie, der ihr dieses Kleinod zum Geschenk gemacht hatte.
Bettina gab Gas, weil sie es auf einmal nicht erwarten konnte, anzukommen. Ja, ankommen war das richtige Wort, denn auf einmal fühlte sie tief in ihrem Herzen, daß sie ihren Platz gefunden hatte, genau an dem Ort, an dem die Geschichte der Fahrenbachs begonnen hatte, die seit fünf Generationen hier zu Hause waren.
Sie nahm eine Abkürzung, die ein Stück entlang am Fluß führte, dann bog sie in einen ausgefahrenen Wiesenweg ein, der direkt auf den Hügel führte, auf dem das Anwesen lag.
Das Haupthaus sah ohne die sonst auf den Balkonen gepflanzten Blumen ein wenig nackt und traurig aus. Aber vielleicht waren die Dunkels und Toni sich nicht klar darüber gewesen, ob nach dem Tod des Hausherrn alles weiter bepflanzt werden sollte. Außerdem kosteten die vielen Blumen ja auch Geld, aber das war etwas, was sich sehr leicht ändern ließ.
Als sie aus dem Auto stieg, erhob sich von den Stufen zur Eingangstür träge ein schwarzer Labrador, dessen Fell in der Sonne glänzte. Abwartend blickte er Bettina an, und es schien, als ob er nicht wisse, wie sie zu begrüßen war – bellend, als Feind oder schweifwedelnd als Freund.
Bettina kannte den Hund nicht, aber von ihrem Vater wußte sie, daß er »Hektor« hieß.
»Hallo, Hektor«, rief sie fröhlich, was den Hund veranlaßte, sich für die freundliche Variante zu entscheiden und es auch gnädig über sich ergehen ließ, daß Bettina ihn streichelte. Er gefiel ihr, es war ein schönes Tier.
Jemand kam eilig über den Hof gelaufen. Es war Toni, er hatte sich überhaupt nicht verändert.
»Die Bettina«, rief er, und seiner Stimme war die Freude über das Wiedersehen deutlich anzuhören. »Oder soll ich jetzt Frau Fahrenbach sagen?«
»Untersteh dich«, rief sie, ehe sie ihn umarmte. »Wenn du das machst, rede ich kein Wort mehr mit dir… ach, Toni, wie schön, dich zu sehen und wieder hier zu sein.«
Er nickte.
»Warst lange nicht hier, so viele Jahre.«
»Das war sehr dumm von mir«, gab sie zu.
Dann öffnete sich die Haustür, Leni kam herausgelaufen, auch sie hatte sich kaum verändert, abgesehen davon, daß sie deutlich rundlicher geworden war. Aber das paßte zu ihr.
Bettina warf sich spontan in ihre Arme. Leni war ihr so vertraut, sie war es, die sie getröstet hatte, wenn sie sich das Knie aufgeschlagen oder wenn sie unglücklich gewesen war.
»Da bin ich endlich«, sagte sie.
Leni strich ihr übers Haar, wie damals, als sie noch ein Teenager gewesen war.
»Es wurde aber auch Zeit«, verstohlen wischte Leni sich eine Träne weg. »Komm rein, ich habe extra für dich den Apfelkuchen gebacken, den du so gern magst.«
Bettina war gerührt. Daß Leni nach so vielen Jahren noch daran gedacht hatte, wie sie über deren Apfelkuchen geradezu hergefallen war.
Als schließlich auch noch Arno, Lenis Mann, sich zu ihnen gesellte und sie – für sein zurückhaltendes Naturell geradezu überschwenglich – begrüßte, hatte Bettina das Gefühl, niemals weggewesen zu sein.
An diesen drei Menschen war alles echt – ihre aufrichtige Freude, sie zu sehen, ihre Herzlichkeit, ihre Selbstverständlichkeit, mit der man sie wieder aufgenommen hatte.
Bettina konnte verstehen, daß ihr Vater, so oft er es nur einrichten konnte, hierher gekommen war. Es war wie in ein anderes Leben eintauchen.
»Hektor hat dich schon in sein Herz geschlossen«, lachte Arno. »Darauf kannst du dir wirklich etwas einbilden.«
Und tatsächlich, dicht an ihrer Seite folgte der Hund ihr ins Haus.
Bettina beugte sich zu ihm herunter und tätschelte ihn liebevoll.
»Ich glaube, wir zwei werden gute Freunde, Hektor«, lachte sie.
»Wie mit deinem Vater, den hatte er auch so gern«, sagte Toni, und als er sich trollen wollte, hielt Bettina ihn zurück.
»Das kommt überhaupt nicht in Frage. Wir trinken alle zusammen Kaffee.«
Toni wurde rot vor lauter Freude. Schließlich war Bettina jetzt seine Chefin.
Als sie ins Haus kamen, bemerkte Bettina sofort, daß alles tip-top gepflegt war, aber fürchterlich zugestopft mit Möbeln, deren Schönheit und Besonderheit so überhaupt nicht zur Geltung kam. Doch das ließ sich sehr schnell ändern.
In der gemütlichen Wohnküche hatte Leni bereits den Tisch gedeckt und stellte nun rasch ein Gedeck für Toni dazu. Sie hatte eine altrosa-farbene Leinendecke aufgelegt und das handbemalte Keramikgeschirr eingedeckt, das Bettina besonders liebte. Mitten auf dem Tisch stand Lenis berühmter Apfelkuchen, bei dessen Anblick Bettina das Wasser im Mund zusammenlief.
»Die Blumen habe ich für dich gepflückt«, sagte Toni voller Stolz, als er bemerkte, wie Bettinas Blick auf einen Wiesenblumenstrauß fiel, der üppig in einen Tonkrug drapiert war.
»Danke, Toni, der Strauß ist wunderschön.«
Bettina war überwältigt und ließ sich auf die mit bunten Kissen drapierte Weichholzbank fallen, auf der schon ihre Urgroßeltern gesessen hatten.
Das war ihr absoluter Lieblingsplatz, den sie auch stets gegen ihre Geschwister verteidigt hatte.
Bettina versuchte krampfhaft, ihre Tränen der Rührung zu unterdrücken. Es war alles so unglaublich emotional, dazu dieser gemütliche Raum, in dem die Zeit stehengeblieben zu sein schien. Erinnerungen stiegen in ihr auf, die ihr sagten, daß sie hier die glücklichste Zeit ihres Lebens verbracht hatte, in jeder Hinsicht. Aber Thomas hatte sie verloren, ihr Vater war gestorben, ohne sie auf das hier vorzubereiten. Und in diesem Augenblick hatte sie keine Ahnung, was sie tun würde.
Sie wollte sich jetzt nicht von sentimentalen Gefühlen überwältigen lassen, zumal die sich ihr bietende Szenerie geradezu filmreif war. Die Sonne malte goldene Kringel auf den Tisch. Es duftete köstlich nach dem Kaffee, den Leni gerade servierte.
Hektor blickte sie unentwegt an, von der Hoffnung beseelt, vielleicht einen guten Bissen zu ergattern.
»So, und nun erzählt«, bat sie, nachdem sie ihr großes Stück Kuchen mit einer gehörigen Portion Schlagsahne gekrönt hatte, »was hat sich so alles ereignet…«
*
In der Nacht hatte Bettina wirre Träume, ihr Vater stand am anderen Ufer des Flusses, und sie fand keine Möglichkeit, zu ihm hinüberzukommen. Er wollte ihr etwas sagen, aber sie konnte ihn nicht verstehen, und als sie endlich einen morschen Kahn entdeckt hatte und verzweifelt versuchte, ihn flottzumachen, war ihr Vater verschwunden.
Mit einem Aufschrei fuhr sie hoch und hatte Mühe, sich zurechtzufinden. Mit zitternden Fingern knipste sie ihre Nachttischlampe an, um sich aufseufzend in die Kissen zurückfallen zu lassen. Sie lag im Bett ihres Jungmädchenzimmers, das sie heute ganz furchtbar fand, aber sie hatte nicht eher Ruhe gegeben, bis ihr Vater ihr diese Möbel gekauft hatte.
Einer ihrer ersten Aktionen würde auf jeden Fall sein, das Zimmer anders zu möblieren, Auswahl an wunderschönen Möbeln hatte