Ein Thron aus Knochen und Schatten. Laura Labas. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Laura Labas
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783959912945
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die Bürger der Stadt tätowiert wurden. Da Evan seine linke Hand verloren hatte, besaß er auch kein Tattoo mehr. Er wusste nicht, ob er sein rechtes Handgelenk tätowieren lassen würde. Eigentlich wusste er überhaupt nichts mehr.

      Während er die Kolonne beobachtete, die von mehreren Dämonen zu Pferd angeführt wurde, ging ihm die Frage nicht aus dem Kopf, ob sich Alison in einer der geschlossenen Kutschen befand. War sie angekettet? Wurde sie gefoltert? Es musste so sein. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie jemals aufgab. Aber was geschah, wenn Dorian genug von ihrem Widerstand hatte und beschloss, sie zu töten? Hatte Evan etwa die falsche Entscheidung getroffen und sollte er nicht lieber zuerst Alison retten, anstatt mitten ins Nichts aufzubrechen, um nach Crystals Schwester Amethyst zu suchen?

      »Da bist du ja.« Er hatte natürlich gehört, wie Crystal sich ihm genähert hatte. Trotz allem war er noch immer ein Jäger. Seine Sinne waren geschult und so geschärft, seine Umgebung ständig wahrzunehmen. »Hast du es dir anders überlegt?«

      Er wandte sich zu ihr um. Überrascht. Irgendwie schaffte sie es immer, seine Gedanken zu lesen, als würde sie ihn schon Jahre kennen und nicht erst seit ein paar Monaten. Seit ein paar Wochen eigentlich erst, wenn man wirklich von kennen sprechen wollte. Als sie noch für seinen Vater gearbeitet hatte, hätte er nicht in tausend Jahren geglaubt, dass sie von Dämonen großgezogen und für Experimente missbraucht worden war, selbst wenn man es ihm gesagt hätte. Aber jetzt, jetzt kannte er sie und sie kannte ihn. Er hatte ihre Wahrheit mit eigenen Augen gesehen.

      »Nein. Wir tun das Richtige. Alison ist stark. Sie wird warten können«, brachte er in einem überzeugenden Tonfall hervor. Er wusste nicht, ob er tatsächlich davon überzeugt war oder ob er es lediglich gut spielen konnte. Kopfschüttelnd drehte er sich weg und reichte Crystal dabei den Apfel, den er erstanden hatte.

      Dankend nahm sie ihn an und lächelte Evan unter dem Schatten ihrer Kapuze zu. Sie hatten sich beide in lange braune Umhänge gehüllt, wie es für Kaufleute üblich war. Es war wichtig, dass sie von niemandem erkannt wurden, da man sie vermutlich für tot hielt. Beide hatten sich geeinigt, dass es besser wäre, diesen Umstand auszunutzen. Es war besser, nicht zur Zielscheibe zu werden, was zweifellos geschehen würde, wenn Billings erfuhr, dass eines seiner Haustiere noch am Leben war.

      »Ich muss zu meinem Vater«, entschlüpfte es ihm, nach dem die Prozession den Marktplatz verlassen hatte. Die Menschenmenge hatte erneut die Lücken geschlossen und aufgeregte Stimmen erhoben sich. Marktschreier durchbrachen die rauschenden Hintergrundgeräusche, während das spielerische Gekreische von Kindern zu ihm herüberwehte.

      »Evan.« Crystal zog ihn in die enge Lücke zwischen einem Stand, der verschiedene Stoffe ausgelegt hatte, und einem, dessen Inhaber besondere Gewürze anpries, die man angeblich so noch nie geschmeckt hatte. »Ich dachte, wir hätten uns darauf geeinigt, niemandem unser Gesicht zu zeigen? Außerdem müssen wir noch so viel vorbereiten für unser Reise …« Ihre strahlend blauen Augen sahen ihn mit großer Sorge, aber auch Zuneigung an. Er hatte ihr noch immer nicht völlig verziehen. Wie sollte er auch? Sie trug Schuld daran, dass er nur noch eine Hand besaß. Trotzdem konnte er sich nicht gegen die Gefühle wehren, die ihn nachts, während er Crystal beim Schlafen beobachtete, wach hielten. Er konnte nicht verstehen, wieso er ihr helfen wollte, wieso er sie mochte, nach allem, was sie ihm angetan hatte. Aus diesem Grund war er auch noch nicht bereit, ihr näherzukommen. Beide waren mit dem Arrangement für den Moment zufrieden.

      »Ich muss. Er hat bereits zu viel verloren«, sprach er die Gedanken aus, die er vorher nicht hatte formulieren können, doch nun waren sie klar und unwiderruflich. »Besorge den restlichen Proviant. Wir treffen uns in zwei Stunden in Alisons Wohnung.«

      Sie wirkte, als würde sie protestieren wollen, doch sie überlegte es sich im letzten Moment anders und drückte seinen rechten Arm. Das hellblonde Haar hatte sie unter der Kapuze versteckt, sodass es kaum zu sehen war. Allein eine Strähne hatte sich aus dem Zopf befreit und ohne darüber nachzudenken, strich er sie zurück hinter ihr Ohr. Sie fühlte sich weich und seidig an.

      »Bis später«, versprach er, bevor er zurück in die Menge trat und sich von ihr mittragen ließ, bis er sich sicher sein konnte, dass Crystal ihn aus den Augen verloren hatte.

      Während er den Marktplatz hinter sich ließ, konnte er nicht anders, als weiter über Alison nachzudenken. Evan war nie glücklich darüber gewesen, wie Arias die Gilde anführte und dass er dazu die Zusammenarbeit mit Dorian hatte nutzen müssen, aber er hatte auch gleichzeitig nie daran geglaubt, dass die Jäger die Welt würden verändern können. Er war ein Mitläufer gewesen und hatte sich von dem Enthusiasmus anderer anstecken lassen. Allen voran von Alisons Enthusiasmus. Sie war so leidenschaftlich gewesen, wenn es um das Jagen von Dämonen ging, was einer der Gründe gewesen war, weshalb er sich so zu ihr hingezogen gefühlt hatte. So einem Menschen wie ihr war er noch nie vorher und auch danach nicht mehr begegnet. Leidenschaftlich, wild, ohne sich zurückzuhalten. Sie nahm sich, was sie wollte, und scheute kein Risiko.

      Er fragte sich, wie sie mit ihrer jetzigen Situation zurechtkam. Natürlich würde sie zuerst wissen wollen, was Dorian mit ihr geplant hatte, aber was dann? Was könnte Dorian von ihr wollen? Würde sie sich darauf einlassen? So oder so, Evan war sich sicher, dass sie stark genug war, alles zu überstehen.

      Schließlich erreichte er die Straße, in der Arias’ Haus zu finden war. Noch einmal tief durchatmend erklomm er die schmale Treppe und trat in den Flur. Die Tür war nicht abgeschlossen gewesen, was merkwürdig war, doch dann lenkten ihn die Geräusche, die er aus dem Arbeitszimmer hörte, ab.

      Langsam näherte er sich dem Raum, um den er normalerweise einen großen Bogen machte. Arias hatte ihm verboten, das Arbeitszimmer zu betreten, da er befürchtete, sein Sohn würde wieder einmal alles zerstören.

      Arias stand vor einem Regal und wählte einige seiner Journale und Bücher aus, die er kurz betrachtete und dann entweder in seine Tasche packte oder zurückstellte. Er wirkte entschlossen und abgelenkt, was der einzige Grund dafür war, weshalb er Evan nicht hereinkommen hörte.

      »Was tust du da?«, fragte Evan leise. Es war ihm unmöglich, die Enttäuschung darüber aus seiner Stimme herauszuhalten, dass Arias sich nicht auf einer verzweifelten Suche nach seinem einzigen Sohn befand. Wieso hatte er überhaupt gehofft, dass es anders sein würde? Er kannte seinen Vater doch besser, wusste, dass ihm nichts heilig war und er kaum einen Finger für Evan rührte. Sie waren emotional sehr weit voneinander entfernt, aber selbst in der Gilde gehörte Evan nicht zum Kreis seiner Vertrauten, sonst hätte er schon länger von seiner Zusammenarbeit mit Ascia gewusst.

      »Packen«, grunzte Arias und blinzelte nur einen Moment überrascht grob in Evans Richtung, bevor er weitere Bücher betrachtete »Wo bist du gewesen?«

      Also hatte er seine wochenlange Abwesenheit doch bemerkt, dachte Evan verbittert, ehe er näher trat und mit den Fingern seiner rechten Hand über die Schreibtischkante strich. Staub blieb an den Kuppen haften.

      »Ich bin entführt worden. Von Dämonen«, antwortete er ruhig und wartete auf eine Reaktion. Irgendeine. Arias blieb stumm und widmete sich dem untersten Regalbrett. »Sieh mich an«, flüsterte Evan unwillkürlich, sich selbst mit den Worten überraschend. Arias reagierte nicht. »Sieh mich an!« Immer noch schien sein Vater ihn auszublenden. Etwas zerbrach in ihm. Seine Sicht beschränkte sich allein auf den kahlen Hinterkopf seines Vaters, als er auf ihn zustürzte und ihn grob am Kragen packte. »SIEH MICH AN! SIEH MICH AN! SIEH MICH AN!«, brüllte er. Die Wucht ihres Zusammenstoßes ließ beide zu Boden gehen, da Arias nicht mit einem Angriff gerechnet hatte. Evan knallte unsanft auf die Seite, weil er sich nur mit einer Hand hatte abstützen können. Die Wunde war noch immer nicht verheilt.

      »Warum siehst du mich nicht an?«, wimmerte Evan. Er sah, wie sich Arias neben ihm scheinbar unbewegt aufrichtete und dann mit weit aufgerissenen Augen erkannte, dass seinem Sohn eine Hand fehlte. Sein Blick huschte wie ein dunkler Käfer davon, der ein Hindernis umgehen wollte. »Bedeute ich dir denn gar nichts? Bin ich nicht genug?«

      Arias erhob sich und rieb den Dreck von seinen braunen Hosen, ehe er sich bückte, um seine Tasche aufzuheben. Er ächzte unter dem Gewicht, während er sie zur Tür schleppte. Bevor er Evan allerdings verließ, drehte er sich