»Das sagst du jedes Mal«, motzte Sarah unweit unter mir. »Einfach einen Schritt nach dem anderen setzen, Aly«, leitete sie mich an, obwohl sie von mir genervt war. »Wenn du fällst, fang ich dich auf.«
Ich zögerte, riskierte einen weiteren Blick nach unten und sah meine Schwester an, die abwartend zu mir aufschaute.
»Versprochen?«, flüsterte ich.
»Versprochen«, wisperte sie zurück. »Ich werde immer da sein, wenn du fällst, Aly.«
Schniefend und mir den Rotz am Ärmel abwischend hatte ich dann mit dem Abstieg begonnen. Ich war trotz meiner zittrigen Gliedmaßen nicht gefallen, denn immer hatte ich die schützende Anwesenheit meiner Schwester im Hinterkopf behalten. Ohne sie hätte ich den Abstieg nicht gewagt.
»Alison«, rief jemand und für einen Moment glaubte ich, Sarah wäre zu mir zurückgekehrt, doch dann erwachte ich vollends. Sarah war tot. Sie würde nie wiederkommen.
Ich blinzelte gegen das sanfte Licht des Flurs, das durch die offene Tür in mein Zimmer fiel, sowie gegen den Lichtschimmer der Mittagssonne, der durch die Vorhänge drang. Sofort erkannte ich eine Person, die auf der Bettkante hockte, bevor ich auch den Rest des Raumes begutachtete. Niemand anderes befand sich bei uns. Trotzdem strahlte Elle eine gewisse Aura der Angst aus, als sie so in Tränen aufgelöst meinen Blick erwiderte.
»Elle«, murmelte ich verwirrt. »Was ist passiert? Bist du verletzt?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Was ist los? Kann ich dir helfen?«
Statt mir zu antworten, fiel sie mir weinend und zitternd in die Arme. Verblüfft wusste ich zunächst nichts mit ihr anzufangen, beschloss aber dann, erst mal zu versuchen, sie zu beruhigen. Es dauerte eine ganze Weile. Jedes Mal, wenn ich mir sicher war, ihre Tränen wären getrocknet, begann sie erneut zu weinen.
Ich strich behutsam über ihr langes Haar, bis das Schluchzen verebbte und ihr Körper zu zittern aufhörte. Langsam und sanft nahm ich ihr junges, herzförmiges Gesicht in meine Hände und schob es von mir, bis ich ihr in die verweinten Augen sehen konnte.
»Elle? Du machst mir Angst«, gestand ich. Es brach mir das Herz, sie so zu sehen. Ich hatte die Worte, die ich an ihren Vater gerichtet hatte, ernst gemeint. Ich wollte nicht, dass ihr etwas zustieß und ich würde sie beschützen.
»Ich habe … etwas erfahren«, sagte sie schließlich. »Über Mom. Lystra«, fügte sie hinzu.
»Magst du mir davon erzählen?«
Sie zögerte kurz, schüttelte dann aber den Kopf. Ich ließ meine Hände fallen. »Was soll ich tun, Alison?«
Nachdenklich spielte ich mit einer von ihren Strähnen. »Denkst du denn, dass du etwas tun musst?«
»Ich bin mir nicht sicher.« Sie senkte ihre Lider. Dichte Wimpern berührten beinahe ihre Wangen. »Vielleicht.«
»Wird in naher Zukunft jemand dadurch verletzt werden, wenn du nichts sagst?«, bohrte ich vorsichtig weiter, um etwas zu finden, mit dem ich sie trösten könnte. Natürlich interessierte es mich brennend, was Lystra so Schlimmes getan hatte, aber ich würde Elle nicht für Informationen ausquetschen, wenn es ihr so schlecht ging.
»Ich glaube nicht.«
Erleichtert nickte ich. »Dann denke ich, hast du noch ein bisschen Zeit, darüber nachzudenken, was du tun sollst.«
»Meinst du wirklich?«
»Aber sicher. So, wie du mir die Lage geschildert hast …« Ich zuckte mit den Schultern und verzog das Gesicht vor Schmerzen. Muskelkater. Ich hatte wirklich Muskelkater.
Sie nickte ernst.
»Darf ich … Darf ich die Nacht hier bei dir verbringen?«, fragte sie zögerlich.
Ich räusperte mich. »Solange dein Vater nicht ungeladen hier auftaucht und meinen Kopf fordert.«
»Tut mir leid«, nuschelte sie deutlich verlegen.
»Keine Sorge. Na komm. Das Bett ist groß genug für uns beide. Brauchst du noch was? Ein Taschentuch? Wasser?« Elle schüttelte den Kopf, bevor wir uns beide in die Decken kuschelten und sie schon nach ein paar Minuten einschlief. Ich horchte noch eine Weile ihrem ruhigen Atem, bis auch ich mich nicht mehr gegen die Müdigkeit wehren konnte.
Ich erwachte, als die Tür leise geöffnet wurde. Dieses Mal waren meine Sinne sofort geschärft und nahmen den Raum innerhalb von Sekunden wahr, dabei bediente sich mein Verstand der Methode, die mich Tante Lucy gelehrt hatte. Den Fokus zunächst auf meine unmittelbare Nähe zu richten. Je näher die Bedrohung, desto schneller musste ich reagieren.
Elle lag schlafend neben mir im Bett. Sie hatte sich bis ganz an den Rand vorgearbeitet und auf die Seite gedreht. Das Sonnenlicht, das durch die Vorhänge drang, war gedämpfter als noch zu dem Zeitpunkt, als Elle hereingekommen war. Die Tür zum Badezimmer war verschlossen, die Eingangstür aber geöffnet und in ihr stand die Bedrohung. Gareth.
»Ich habe auf dich gewartet«, erklärte er seine Anwesenheit. Er sah bloß mich an.
»Es war eine lange Nacht«, murmelte ich und stieg langsam und leise aus dem Bett. Der Boden fühlte sich unter meinen nackten Sohlen kalt an. Gareth hob abwartend eine Augenbraue, bevor seine Augen musternd über meinen Körper fuhren. Ich trug nichts sonderlich Skandalöses, vor allem, wenn man unsere zweite Begegnung in Betracht zog, in der ich bloß ein Bettlaken um mich geschlungen hatte. Nein, ich war mit einem Top und einer lockeren, kurzen Stoffhose absolut anständig gekleidet, doch meine nackten Beine und mein verworrenes braunes Haar ließen mich verwundbar fühlen.
»Warte draußen. Ich will sie ungern aufwecken«, bat ich, was zum einen der Wahrheit entsprach, zum anderen brauchte ich ein paar Minuten, um mich zu fangen. Wieso bemerkte ich jetzt auf einmal seine Blicke, die mir unter die Haut gingen? Wieso sah er mich überhaupt so an? Er drehte sich wortlos um und schloss die Tür hinter sich. Natürlich, er fand mich attraktiv. Das war doch alles, oder? Ich sollte vorsichtiger sein, denn auch wenn er anscheinend kein Problem mehr mit einem Menschen hatte, so hatte ich meine Vorurteile aber noch längst nicht alle abgelegt und würde mich nicht auf ihn einlassen.
Im Bad putzte ich mir eilig die Zähne und schlüpfte in enge schwarze Jeans, ein Shirt und einen Pulli, den ich bequem ausziehen konnte, falls mir während des Laufens zu warm wurde. Meine dunkelbraunen Haare, die seit mehreren Monaten keine Schere mehr gesehen hatten, reichten mir mittlerweile bis zur Mitte des Rückens. Ich würde sie bald wieder schneiden müssen, da sie im Training hinderlich waren. Für den Moment band ich sie mir zu einem Pferdeschwanz zusammen. Einen letzten Blick in den Spiegel werfend seufzte ich. Die Nacht war wirklich kurz gewesen und das zeigte sich in meinen dunklen Augenringen und meinen blassen Wangen.
Schließlich verließ ich das Bad, um Gareth nicht länger warten zu lassen. Ich wollte nicht, dass er erneut hereinstürmte und dabei Elle weckte, die ihren Schlaf eindeutig nötiger hatte als ich. Was auch immer sie erfahren hatte, es war schlimm für sie gewesen. Ich rätselte, was es sein konnte, kam dabei aber zu keinem Ergebnis. Für Antworten kannte ich Lystra einfach nicht genug. Ich hatte sie erst ein einziges Mal gesehen.
»Also?« Gareth hatte direkt hinter der Tür an der Wand lehnend gewartet und sah mich nun unverhohlen neugierig an.
»Also was?«, schnappte ich sofort. Die schlechte Laune saß mir im Nacken. Außerdem hatte ich noch immer leichten Muskelkater von gestern, was nicht dazu beitrug, mich aufzuheitern.
»Willst du mir verraten, was Elle in deinem Zimmer macht?«
Wir setzten uns gemeinsam in Bewegung. Das Anwesen war still. Die Dämonen schliefen entweder oder beschäftigten sich mit Angelegenheiten, die wenig kräftezehrend waren. Das Tageslicht bekam ihnen nicht. Nun ja, den meisten von ihnen zumindest. Gareth schien nur minimal davon betroffen zu sein. Ich hatte bemerkt,