„Mauswechsel“, rief plötzlich die dunkle Stimme des Kräftigsten in die Stille hinein. Diese Reitetappe gehörte den Erwachsenen. Rofon bekam von seinen Eltern je einen Kuss auf die Stirn gedrückt, bevor die beiden auf den Mauserücken stiegen. Es gab eine große Drängelei. Alle wollten reiten, aber nur knapp ein Drittel passte auf den Rücken der Maus.
„Die arme Maus!“, sagte Rofon mitleidig. Lilla nickte.
Schließlich befahl der Kräftigste den Erwachsenen, sich in einer Reihe aufzustellen. Sie sollten 1, 2, 3 durchzählen, und wer dabei die 3 erwischte, durfte reiten. Rofons Vater hatte dieses Glück.
„Der hat es gut! Stimmt´s?“ Rofons Mutter lächelte müde und ging neben Lilla und Rofon her. Wie blass sie war! War sie krank? Lilla erschrak. Baba schien Lillas Beunruhigung bemerkt zu haben. „Ich bin ganz ok“, versicherte sie Lilla. „Nur etwas müde.“
Lilla sagte nichts mehr. Ehrlich gesagt dachte sie auch nichts mehr. Sie guckte nur. Sie sah die Blasse Steppe, die Kräftigen, die Maus und ihre Reiter und unglaublich viele laufende Männer, Frauen und Kinder. Das Einzige, was sie nicht sah, war das übliche Lächeln auf den Gesichtern der Dorfbewohner Sogittas. Sie konnte den anderen jedoch nichts vorwerfen. Auch ihr eigenes Gesicht hatte nicht die übliche rosige Farbe und den lachenden Mund. Die lockigen, zerzausten Haare lagen ihr glatt auf den Schultern. Langsam begann Lilla sich zu sorgen, ob Agiza und Mazzo sie wohl wiedererkennen würden. „Och, das werden sie schon!“, beruhigte sie sich murmelnd.
„Was?“
„Ich ... ich habe nur nachgedacht!“ Lilla fühlte sich plötzlich sehr schlecht. Sie wollte nach Hause! Verdammt noch mal! War das denn sooo schwer zu verstehen? Lilla lief los. Vor den kräftigen Zwergen her. Immer den Langen Weg entlang. Sie rannte und rannte und rannte. Immer weiter und immer schneller! Es war schön zu rennen, wenn man es nicht musste! Lilla fühlte sich so frei, wie schon lange nicht mehr. Hinter sich hörte sie die Rufe einiger Männer. Ganz weit hinten waren sie. Lilla konnte erkennen, dass auch Rofon anfing zu rennen. Immer und immer schneller wurde auch er, bis er sie schließlich fast erreicht hatte. Tolla lief ebenfalls los und Krolle, Rambi und Druschel, Langa und Freddel, Limbi, Pinka, Potzer und Kirtosso folgten ihrem Beispiel.
Bald sah man einen Haufen Kinder den Langen Weg entlangrennen. Und es dauerte nicht lange, bis sie auch einige der Erwachsenen angesteckt hatten. Unter denen war Rofons Mutter Baba, der Lebensmittelladenbesitzer Flummbert, Obst- und Gemüsehändler Jusche, Museumswärterin Fitzky und ganz zum Schluss der strenge Herr Lehrer mit seiner Frau, Lillas Erzieherin. Alle rannten sie hinter Lilla her! Rambi, der schnellste Läufer aus der Grundschule Zwergelolli, hatte Lilla schon eingeholt.
Sie gaben ein lustiges Bild ab. Erst recht, als plötzlich auch noch viele der Reiter von der Maus absprangen und ebenfalls losrannten! Die Maus schien diese Erholungspause sehr zu genießen und blieb hinter den Läufern zurück.
Es war ziemlich unverständlich, warum alle plötzlich rannten, als wäre der Teufel hinter ihnen her. Einfach so. Aber musste es denn wirklich für alles einen Grund geben? Muss man wirklich immer genau wissen, warum man etwas tut, bevor man es tut? Und musste man sich unbedingt etwas Bestimmtes dabei denken?
Die Bürgerinnen und Bürger Sogittas schienen sich einig zu sein, dass das nicht nötig war. Also rannten alle weiter. Einfach so, den Langen Weg entlang.
Bald ereignete sich noch etwas Sonderbares. Etwas, das alle froh machte und das es auf dem Langen Weg so gut wie nie gab. Es begann zu regnen!
Normale Stadtmenschen finden den Regen vielleicht abscheulich. Ja, das kann gut sein. Sie, diese Stadtmenschen, hatten dann aber wohl noch nie die Erfahrung gemacht, auf dem Langen Weg zu marschieren. Obwohl sie es sich ja bloß zu wünschen brauchten. Denn wer nach Sogitta oder in eines der anderen Dörfer und Wälder will, muss sich das nur mehr als alles andere auf der Welt wünschen. Es bedeutet jedoch sehr viel für einen Wunsch im Herzen eines Menschen, der wichtigste zu sein. An diese Macht zu kommen gelingt nicht jedem.
Lilla jedenfalls fühlte sich im tröpfelnden Regen jedenfalls sehr wohl! Ihre Haare wurden allmählich nasser und nasser und hingen bald wie Waschlappen auf ihren Schultern. Das machte nichts. Die Sonne würde ihre Haare trocknen, sobald der Regen vorüber war.
Lilla wurde allmählich langsamer. Der Regen wurde ihr unheimlich! Noch nie hatte jemand von einem harmlosen Regenschauer auf dem Langen Weg berichtet. Es gab höchstens heftige Unwetter. Lilla bibberte. Das musste es sein. Gleich würden sie von einem Unwetter überrascht werden! Lilla wartete, bis alle sie eingeholt hatten.
Rambi und die anderen Schnelleren kamen zurückgelaufen. „Warum rennt ihr nicht weiter?“, fragte Rambi nach. „Wir werden nicht mehr oft einen Regen genießen können!“
„Wir müssen einen Unterschlupf suchen!“, sagte der Bürgermeister ernst.
Lilla begriff, dass auch er schon die Gefahr bemerkt hatte. Sie beschloss sich aus allem herauszuhalten, so wie es sich in einer miserablen Situation für Kinder gehört. Gehorsam folgte sie dem Rat des Bürgermeisters und drängte sich mit den anderen Zwergenkindern eng zusammen.
„Alle, Erwachsene wie Kinder, müssen dicht beieinanderstehen! Die Kräftigsten und Tapfersten ganz innen. Wie bei den Pinguinen.“
Lilla fand es unfair, dass die Schwächeren außen stehen mussten, während die Kräftigsten von allen anderen geschützt wurden. Sie konnte von Glück reden, sie stand noch relativ weit in der Mitte.
Genau in dem Moment, als sich alle Einwohner Sogittas eingekuschelt hatten, begann das riesige Unwetter! Lilla schloss die Augen. Sie wollte nicht sehen, was passierte, sie brauchte es nur zu spüren und bekam schon Herzklopfen. KRACZ! Ein Baum weiter hinten war laut in sich zusammengebrochen! Lilla erinnerte sich daran, wie die Drachen die Nachbarhütte in Sogitta zum Einsturz gebracht hatten. Das war der Anfang ihrer Reise gewesen. Der Wind schoss ihr um die Ohren, Sand klatschte ihr auf das Gesicht. Es begann zu donnern und zu blitzen. Zum Glück gab es in der Nähe einen See, den Blassen See. Er würde das erste Ziel der Blitze sein. Der Himmel verfärbte sich schwarz. Es wurde noch kälter als zuvor. Hoffentlich war alles bald vorbei! Aber an ein baldiges Ende des Unwetters war nicht zu denken. Eher würde das Ende der Bürger kommen, das Ende der alten Zwerge, die zu klapprig waren, sich bei diesem Sturm auf den Beinen zu halten. Das Ende der kleineren Kinder, Lillas Ende. Doch das Unwetter schien nicht im Traum daran zu denken, sich zurückzuziehen. Ständig wehte der Steppensand in ihre Nase. Lilla hielt sich verzweifelt die Augen zu. Die Regengüsse wurden heftiger als zuvor. Es prasselte auf ihren Kopf, Lilla musste sich zusammenreißen, nicht zu schreien. Weiter außen hingegen schrien kleine Zwergenkinder um die Wette. Es waren ohrenbetäubende Schreie, die sich mit dem Lärm des auf den Boden schlagenden Regens vermischte.
Sie durfte nur nicht einschlafen. Bloß nicht! Ihr schwirrten die Worte des Bürgermeisters im Kopfe herum. „Schlaft bloß nicht ein! Ihr werdet sonst erfrieren!“
Lilla schauderte. Sie meinte, das Seufzen der Bäume zu hören, bevor diese in sich zusammenbrachen. Ihre Mutter hätte sie sofort mit einer Wärmflasche und heißem Tee ins Bett gebracht. Ihre Mutter. Lilla stiegen wieder die Tränen hoch, doch sie hielt sie zurück und hoffte, dass es zu Hause in Sogitta, wo Agiza war, kein Unwetter gab. Was sollte ihre arme Mutter denn tun, um sich zu schützen, sie war doch verletzt!
Noch schien das gewaltige Unwetter keine Pause zu benötigen. Lilla musste die Augen öffnen. Nicht nur einfach öffnen, sie musste sie aufreißen.
In diesem Moment kämpfte sie nicht mit Drachen, sondern mit dem Schlaf! Aber dieser Kampf war nicht weniger schlimm als ein Kampf gegen die Drachen, es war nur einer der anderen Sorte. Der Kampf mit dem Sturm, mit dem Gewitter und dem kräftigen Regen war gemein. Immer musste man befürchten, dass jemand aus der Truppe weggeblasen wurde und irgendwo im Himmel oder auf Erden erfror! Lilla wollte sich nicht vorstellen, wie schrecklich es sein musste, ohne den Schutz der anderen zu stehen. Steppensand brannte in ihren Augen. Doch Lilla konnte nichts machen, außer sich nur noch näher an die dicke Dame vor sich zu quetschen. Wie gern würde Lilla jetzt einen heißen Kakao trinken, einen