„Ich war schon bei fünfhundertsechsundsiebzigtausendeinundsechzig. Dann hab ich aufgehört zu zählen“, berichtete Lilla stolz.
Nur zur Information: Zwerge können, sobald sie sprechen, von Null aus immer weiterzählen.
„Ich hab ganz früh aufgehört zu zählen, ich weiß nicht einmal mehr, wie weit ich gekommen bin. Puuuuh, das war eben doch total kalt, bitterkalt, findest du nicht?“
„Doch, das war es! Boah. So doll hab ich meinem Leben noch nicht gezittert, ich dachte, jeden Moment erfriere ich!“ Kurze Zeit sagte keiner etwas.
„Ich hatte auch Angst vor den Drachen“, flüsterte Rofon Lilla ins rechte Ohr. „Wir hätten uns doch gar nicht vor ihnen schützen können! Für Drachen ist das doch bloß ein kleiner Wind.“
„Quatsch, das stimmt nicht. Mama hat mir erzählt, dass das Einzige, vor dem sie sich ebenso fürchten wie wir, Sturm und Unwetter sind!“
„Nicht wahr!“, quengelte Rofon. „Papa hat mir gesagt, Drachen haben nur Angst vor Müll. So wie Putzfrauen!“
Lilla konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. „Aber Rofon, das war bestimmt ein Scherz!“
„Nein! Das war es nicht.“
„Na meinetwegen, vielleicht wissen die Zwerge noch gar nicht so genau, wovor Drachen Angst haben. Es war ja auch bis vor einer Woche noch keiner zu Besuch in Sogitta.“ Rofon sah, wie eine dicke Zwergenträne Lillas Wange hinunterlief. Eine dicke, fette Zwergenträne. Lilla leckte die Träne ab. Sie war salzig. Sie dachte an ihre Eltern. Rofon legte ihr seinen Arm um die Schultern. Er wusste, warum sie weinte.
„Alles wird wieder gut! Bestimmt. In drei Monaten sitzen wir alle zusammen im Garten und erinnern uns an das Ganze hier bloß noch.“ Lilla schaute Rofon an.
Ihr Blick brachte ihn zum Verzweifeln! Er mochte es nicht, seine Kindergartenfreundin so bedribbelt sehen zu müssen. Wo war nur die fröhliche Lilla mit den braunen Ringellöckchen geblieben? Einen Moment lang hatte er Angst, dass Lilla von nun an immer so ernst sein würde, doch dann sagte er sich: „Ach was! Bald ist alles vorbei!“
Rofon ahnte ja nicht, wie sehr er sich irrte.
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4. Kapitel
Bis zum Mittag hin blieb die Stimmung unter den Bewohnern gedrückt. Irgendwann jedoch versammelte sich ein Teil der Kinder, um ein bisschen zu plaudern und sich Witze zu erzählen. Sogar Cyta, die selbstverständlich immer noch todunglücklich war, gesellte sich zu den anderen. Bald sah man eine lange Reihe von Kindern den Weg entlang marschieren.
„He, Leute! Ich hab einen guten! Eine Tomate kommt aus dem Haus. Gustav fragt sie: Wo willst du hin? Darauf die Tomate: Zum Gericht!“
„Ich hab einen noch besseren! Herr Schuhmann sieht Bären. Sie wollen ihn fressen. Da holt Herr Schuhmann seinen Pinsel und malt die Bären blau an. Jetzt isst er die Blaubären! Hahahahahaha.“
Zum Erstaunen aller meldete sich auch Cyta zu Wort. Natürlich durfte sie sofort loslegen! „Ähm“, räusperte sie sich, als stünde eine wichtige Rede bevor. „Ich werde euch erzählen, wie der Hammerhai entstanden ist. Bei einem großen Haiwettkampf gab es die Disziplin Bummelfischfang. Die Bummelfische waren sehr schnell. Niemand erwischte einen. Nur Berthold gelang es, einen der flinken Bummelfische zu erwischen. Die anderen nannten ihn Superhai oder grandioser Hai – und einer sagte: Du bist echt der Hammer, Hai. Ab da nannte man die Nachfolger Bertholds Hammerhaie!“ Eine Weile blieb es still, dann fingen alle an zu lachen, wie auf Kommando!
Es folgten noch ein paar Witze, wie zum Beispiel dieser: Ein Cowboy geht zum Friseur. Als er rauskommt, ist sein Pony weg. Es liegt auf dem Boden des Friseursalons. Oder dieser: Freche Füchse fuchsen keine flinken Fauken auf dem Fett.
Anea, ein Junge aus Sogitta, baute mit seinen Freunden Fixi und Olsaf Schiffchen. Irgendwann fingen die drei damit an, anderen ihre Schiffchen auf den Kopf zu setzen. Dabei sangen sie das „Schiff auf und ab“-Lied:
„Schiff auf, Schiff ab, den Grund herab. Groß, klein, klein, groß, wie war denn das bloß? War mein Schiff lila, blau oder pink? Jetzt ist´s vorbei: Sink, sink, sink!“
Die meisten Bürgerinnen und Bürger waren nach einiger Zeit ziemlich genervt vom Bandenboss Anea. Anea hatte nämlich in Sogitta den Ruf, ein rechter Lausbub zu sein. Ein Jahr zuvor hatte er von seinen Eltern einen Plumpfer bekommen. Plumpfer funktionieren ähnlich wie Fahrräder, nur dass sie komplett aus Korb hergestellt werden und man nicht darauf sitzt, sondern liegt. Auf dem Bauch. Die Pedalen werden mit den Händen betätigt.
Seit Anea diesen Plumpfer besaß, fuhr er damit überall hin. Auf seinen Wegen hatte er sich mit Olsaf und Fixi angefreundet. Mittlerweile waren die drei unzertrennlich – und unschlagbar darin, sich Streiche auszudenken. Der Bürgermeister hatte schon einmal öffentlich während einer Sitzung darum gebeten, Anea seinen Plumpfer wegzunehmen. Doch da der Plumpfer Aneas Ein und Alles war, ließ man es ihm.
Anea rannte nun schon zum dritten Mal in die sich Witze erzählende Gemeinschaft und sang das Schiffchenlied. Lilla wusste, dass Anea es nicht leicht hatte. Keiner mochte ihn wirklich gern, nicht einmal seine Eltern, Großeltern und Tanten! Na ja, seine Mutter schon – doch sein Vater war Aneas wegen sogar ausgewandert! Lilla wusste auch, dass das, was sie vorhatte, nicht sehr vernünftig und nett war. Sie stürzte auf Anea los, schrie: „Aufhören! Bitte!!!“
Und als das nichts brachte, holte sie aus und verpasste Anea eine mächtige Backpfeife. Im selben Moment bereute sie es schon ... Lilla ärgerte sich! Ständig machte sie Sachen, die sie danach sofort bereute. Hinter Lilla begannen immer mehr Kinder zu klatschen. Sie klatschten und riefen: „Super Lilla! Gib´s ihm!“, und sangen bald darauf im Chor: „Lilla ... Lilla ... Lilla ...“
„Ihr seid alle so gemein! Er kann doch nichts dafür, dass er so ist.“ Lilla bahnte sich einen Weg durch die Menge und rannte los. Immer der Nase nach, den Langen Weg entlang. Als sie nicht mehr zu sehen war, verstummten die kleinen Zwerge.
Die Blicke wendeten sich auf Anea. Der schlich sich seitlich aus der Menge heraus und trottete hinter Lilla her. Alle anderen blieben fassungslos zurück.
Inzwischen war eine Zeit vergangen und Lilla eingeschlafen, und zwar auf einem großen, spitzen, bestimmt nicht sehr bequemen Stein. Anea lief immer noch. Er suchte Lilla. Die Sonne war schon wieder auf dem Weg nach unten und bereit, mit dem Mond die Stellung zu tauschen.
Da sah Anea etwas Goldenes vor sich aufblitzen. Es war ein Tor! „Boah“, staunte er und trat einen Schritt zurück. Sein Herz pochte und ihm wurde ganz kalt. Auf der Spitze des Tores prangte eine goldene Rose. Das Wappen Fulmens! Riesengroß türmte sich das goldene Tor vor dem Zwergenjungen auf und bei dieser Sonne glänzte es in seiner vollen Pracht! Goldenes Licht hüllte Anea ein, der immer noch fassungslos die Schönheit auf sich wirken ließ.
„Boah!“ Langsam begann Aneas Herz sich zu beruhigen. Er blickte auf das im Abendrot glänzende Tor. Anea ging weiter und vergaß für einen Augenblick, dass er ja eigentlich Lilla suchte. Lilla, die vor lauter Müdigkeit kaum noch hatte sehen können und sich – ohne es zu merken – auf einem Stein direkt vor dem gewaltigen Torbogen niedergelassen hatte.
Nun schlug sie ein Auge auf. Sie erhob sich und wusste für einen Moment nicht, ob sie immer noch schlief oder bereits wach war. Vor sich sah