Der Boden wackelte wirklich! Lilla krallte sich an ihrem Bett fest. „Maa…maa“, krähte sie. Aber es war so leise, dass sogar ein Regenwurm lauter hätte rufen können. Regenwürmer waren für Zwerge wie riesige Schlangen, aber sie galten als sehr ruhige Tiere.
Mittlerweile schienen auch andere das Beben bemerkt zu haben. Aus der Nachbarwohnung hörte man einen gellenden Schrei. Lillas Blut gefror in den Adern.
Plötzlich sprang sie auf. Sie rannte ans Fenster, zog die Gardinen zur Seite und schaute hinaus. Was sie dort sah, brachte sie endlich zum Schreien. Ganz laut! Gegenüber brach die kleine Holzhütte in sich zusammen! Zwerge da und dort rannten wie wild draußen herum! Ein riesiges Ungeheuer packte gerade einen Zwerg, der mindestens sechsundsechzig Mal kleiner war als das Ungeheuer selbst, am Pulli und schleuderte ihn durch die kalte Abendluft.
Genau in diesem Augenblick öffnete Lilla die Tür ihres Zimmers und rannte zusammen mit ihrer kreischenden Mutter aus dem Haus. Und dann sah sie auch schon, was ihre Mutter fuchsteufelswild und aggressiv gemacht hatte: Der Zwerg im Maul des Ungeheuers war niemand anderer als ihr Vater!
Agiza versuchte ihre Tochter festzuhalten, doch Lilla riss sich los. „Neiiiiiiiiiiiiiin!“, hörte sie die Stimme ihrer Mutter. „Lillaaa! Hiilfe! Zu Hiilfe! Meine Tochter!“
Ihre Mutter tat Lilla leid. Und einen Moment dachte sie daran zurückzukehren, zurück zu ihrer vor Angst erstarrten, schreienden Mutter. Doch die Angst um ihren Vater war größer. Auch wenn sie genau wusste, dass sie gegen ein so großes Ungeheuer nicht mal den Hauch einer Chance hatte, tat es gut, wütend zu sein! Lilla nahm sich einen riesigen Stock. Sie taumelte, so schwer war er. Mit ihrer ganzen Kraft begann sie auf den Rücken des Ungeheuers zu klettern. Da hörte das Zwergenmädchen plötzlich ein lautes Gebrüll, das von hinten kam: „Aaaaaaaaaaaaah!“
Mit einem riesigen Satz krallte sich Agiza am Schwanz des wild gewordenen Ungeheuers fest. Jetzt griffen auch andere an! Sie zogen an seinen Ohren und drohten ihm mit winzigen Messern, die für das Ungeheuer keine Gefahr darstellten. Die Lage schien aussichtslos zu sein.
Zwanzig Meter weiter kämpfte eine andere Gruppe mit einem anderen Angreifer. Vom Kopf des Scheusals konnte Lilla endlich sehen, um wen es sich bei den Angreifern handelte. Es waren … Drachen!
Neben sich sah sie Rofon. Auch er schlug verzweifelt auf den Drachen ein. Er steckte dem Viech seinen Stock in das Ohr. Der Drache brüllte! Ein lautes, dunkles Brüllen. Er schüttelte sich. Doll! Verflixt doll! In alle Richtungen flogen Zwerge von dem Drachen ab, wie Matsch von einem Schwein.
Auch Lilla und Rofon flogen in einem hohen Bogen zu Boden. Es war grausam! Die Einwohner Sogittas schrien um die Wette! Und überall sah man die Schrotthaufen der eingestürzten Häuser. Eine riesige Rauchwolke hüllte ganz Sogitta ein. Drei riesige grellgelbe und grüne Drachen flogen in den Himmel. Drei Drachen und ein ohrenbetäubender Schrei, die nur Furcht in Sogitta zurückließen, erfüllten die Luft. Der Schrei kam von Lillas Vater!
Plötzlich war alles wieder so unglaublich still. Es war unheimlich. In der hintersten Ecke schluchzte Agiza. Aber auch andere Zwerge weinten. Die Drachen hatten noch mehr von ihnen entführt und das Dorf war nur noch ein riesiger Trümmerhaufen.
Auch das Haus von Lilla und ihren Eltern war dem Angriff der Drachen zum Opfer gefallen.
Alle Einwohner Sogittas befanden sich auf den Straßen. Das Gefühl von Hass erfüllte die Bürger. Vor allem diejenigen, von denen ein Verwandter oder Freund entführt worden war, schienen ihren Lebenssinn verloren zu haben.
Und zu denen gehörten auch die kleine Lilla und ihre Mutter.
*
2. Kapitel
Es dauerte nicht lange, da hatte das ganze Dorf beschlossen zu fliehen, denn die Drachen würden garantiert ein weiteres Mal angreifen. Jetzt war der Moment also gekommen! Die Drachenwelt versuchte, das Versteck des Schmieds aus den Einwohnern herauszuquetschen, denn auf ihn hatten sie es ja abgesehen, und Sogitta würde von nun an ein Dorf voller Angst und Furcht sein.
„Mama, wann kommt Papa wieder?“, schluchzte Lilla. Doch sie wusste, dass Agiza die Antwort auf ihre Frage ebenso wenig wusste wie das Mädchen selbst.
„Ach meine Lilla, ich weiß es nicht. Du musst tapfer sein, hörst du? Du musst schrecklich tapfer sein.“
Erst jetzt sah Lilla die tiefe Wunde in Agizas Bein, die ihr der Drache wohl mit dem Schwanz verpasst hatte. Agizas schmerzverzerrtes Gesicht versuchte ein klägliches Lächeln. Sie nahm die Hand ihrer Tochter, während sie das Salz ihrer Tränen schmeckte.
Lilla begriff. Sie begriff, dass ihre Mutter nicht mit den anderen zusammen fliehen würde. Sie begriff, dass es ihr dafür an Kraft fehlen würde.
„Lilla. Du musst tapfer sein. Du musst fliehen. Ich werde hier bleiben, Lilla. Sei tapfer!“
Da fiel Lilla ihrer Mutter in die Arme. Sie war sich sicher, dass Agiza es schaffen würde. Denn sie war diejenige, die tapfer sein musste! Und das würde sie auch sein. Irgendwann einmal, irgendwann würden sie alle drei wieder in Sogitta zusammensitzen. Alle drei! Lilla, Mama und Papa.
„Auf Wiedersehen, Mama! Sei tapfer, ich werde es auch sein!“
Agiza lächelte. „Was für eine tolle Tochter ich doch habe“, dachte sie und drückte Lilla einen fetten Schmatzer auf die Wange.
Schon bald begannen die Vorbereitungen für die Flucht. Die letzten noch übrig gebliebenen Lebensmittel wurden zusammengerafft und das letzte Wasser aus dem Brunnen geholt. Lilla bestand darauf, ihren Teddy in dem Schrotthaufen zu suchen, auch wenn jedes überflüssige Gewicht Fürchterliches verursachen könnte.
Der Weg ins Nachbardorf Fulmen war weit, es war heiß und die Vorräte waren knapp. Zwei Mäuse gab es in Sogitta an Haustieren, mehr nicht. Die Kinder wurden mithilfe der Erwachsenen auf die Rücken der Tiere gehoben. Sie durften zuerst reiten. Sechzehn Kinder drängelten sich allein auf einer Maus, auf der anderen waren es immerhin fünfzehn. Die Kinder, die noch übrig geblieben waren, mussten sich auf die Rücken der starken Männer setzen.
Lilla dachte an ihren Vater. Hoffentlich lebte er noch! In ihr stiegen wieder die Tränen hoch. Da! Der Startruf der kräftigen Männer ertönte und Lilla krallte sich mit beiden Händen im Fell der Maus fest, während sie verzweifelt versuchte, zu ihrer Mutter zurückzuschauen. Doch sie schaffte es nicht! Hinter ihr saßen noch elf andere Zwergenkinder, die ihr die Sicht versperrten.
Daher rief sie so laut sie konnte: „AUF WIIEDERSEEEHEN!“
Sie hörte die Antwort ihrer Mutter und merkte an ihren Rufen, wie schnell sie sich aus ihrer Heimat entfernten. Es tat Lilla in der Seele weh, ihre Mutter so alleine zurücklassen zu müssen, doch sie erinnerte sich daran, was Agiza ihr zum Abschied gesagt hatte: „Du musst tapfer sein, hörst du? Du musst schrecklich tapfer sein.“ Lilla biss die Zähne zusammen. Eine große Zwergenträne kullerte ihr die Wange herunter. „Auf Wiedersehen Mama“, flüsterte sie ein letztes Mal, „ich weiß, dass du es schaffen wirst!“ In Gedanken hörte sie ihre Mutter antworten: „Du hast recht! Ich weiß, dass ich es schaffen werde!“ Da schloss das Mädchen seine Augen und sank in einen tiefen Traum ...
Als Lilla wieder erwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Wie lange sie wohl geschlafen hatte? Erst jetzt bemerkte sie, dass außer ihr alle schliefen. Sie fragte sich, ob es nicht gefährlich sei, einfach so ungeschützt auf dem Langen Weg zu rasten. Sie blickte hinter sich. Da saß Rofon. Auch er schlummerte tief und fest. Wie lange sie wohl schon so da lagen?
Weiter hinten sah sie, dass auch einer der kräftigen Männer wach war. Lilla kletterte vorsichtig am Fell der Maus herunter und ging leise zu ihm.
„Entschuldige ...“