Die Nacht war nicht so schön wie der Abend, denn es wurde kühl, und da man mich zwischen zwei Herren (den mit der heisern Stimme und einen andern) gesetzt hatte, damit ich nicht herunterfalle, so erstickten sie mich fast, als sie einschliefen und mich ganz zudeckten. Sie quetschten mich manchmal so unbarmherzig, daß ich ausrufen mußte: »Ach, bitte, bitte!« – was ihnen gar nicht gefiel, weil sie davon aufwachten. Mir gegenüber saß eine ältliche Dame in einem großen Pelzmantel, die im Finstern mehr wie ein Heuschober, als wie eine Dame aussah, so sehr war sie eingewickelt. Diese Dame hatte einen Korb bei sich, und wußte lange Zeit nicht, wo sie damit bleiben sollte, bis sie entdeckte, daß er wegen meiner kurzen Beine ganz gut unter meinen Sitz geschoben werden konnte. Er beengte mich dort aber so sehr, daß ich ganz unglücklich darüber wurde, und wenn ich mich nur ein wenig regte und das Glas, das im Korbe war, klapperte, was stets der Fall war, so gab sie mir einen derben Stoß mit ihrem Fuße und sagte: »Sitz' doch still. Deine Knochen sind jung genug, sollte ich meinen!«
Endlich ging die Sonne auf, und jetzt schienen meine Nachbarn ruhiger zu schlafen. Was sie die Nacht über an ängstlichen Traumen oder Gefahren ausgestanden hatten, und wie sie sich durch das schreckliche Ächzen und Schnarchen Luft machten, läßt sich gar nicht beschreiben.
Je höher die Sonne stieg, desto leiser schliefen sie, und allmählich erwachte einer nach dem andern. Ich weiß noch, daß es mich sehr wunderte, wie nun ein jeder so tat, als habe er gar nicht geschlafen, und ungemein heftig wurde, wenn man ihn dessen anklagte. Noch heutigestags empfinde ich dasselbe Staunen, denn ich habe unabänderlich beobachtet, daß von allen menschlichen Schwächen (ich weiß nicht aus welchem Grunde) die Menschen im allgemeinen am abgeneigtesten sind einzugestehen, daß sie im Wagen geschlafen haben.
Wie überwältigend mir London vorkam, als ich es in der Ferne erblickte, und wie ich mir vorstellte, daß sich alle Abenteuer meiner sämtlichen Lieblingshelden dort täglich wieder abspielten, und wie in mir die dunkle Vorstellung entstand, daß es reicher an Wundern und Verbrechen sei, als jede andere Stadt der Welt: das alles brauche ich hier nicht zu erzählen. Wir näherten uns der Stadt allmählich, und erreichten zu gehöriger Zeit den Gasthof in Whitechapel, wo wir ausspannten. Ich weiß nicht mehr, ob es der blaue Bock oder der blaue Bär war, aber ich weiß, daß es ein blaues Ding war und daß dasselbe Bild auf der Rückseite der Kutsche zu sehen war.
Die Augen des Kondukteurs fielen auf mich, als er herunterstieg, und er fragte an der Tür des Billettschalters: »Wartet hier jemand auf einen Knaben, der auf den Namen Murdstone aus Blunderstone in Suffolk eingeschrieben ist und abgeholt werden soll?«
Niemand antwortete.
»Bitte, versuchen Sie's einmal mit Copperfield, Sir«, sagte ich, und blickte ratlos hinab.
»Wartet hier jemand auf einen Knaben, der auf den Namen Murdstone aus Blunderstone in Suffolk eingeschrieben ist, aber Copperfield heißt und abgeholt werden soll?« fragte der Kondukteur abermals. »Heda! Ist niemand da?«
Nein. Es war niemand da. Ich sah mich spähend und besorgt um, aber die Nachfrage machte keinen Eindruck auf einen der Umstehenden, wenn ich nicht einen Mann mit Gamaschen und einem Auge ausnehmen will, der den Rat gab, mir ein messingenes Halsband anzulegen und mich im Stalle festzubinden.
Man brachte eine Leiter, und ich stieg erst nach der Dame hinunter, die einem Heuschober ähnlich sah, weil ich mich nicht eher zu rühren wagte, als bis sie ihren Korb weggenommen hatte. Die Kutsche war jetzt an Passagieren leer geworden, das Gepäck war bald heruntergeholt, die Pferde waren abgeschirrt und weggeführt worden, und jetzt wurde auch die Kutsche von ein paar Hausknechten herumgedreht und hinten in den Hof geschoben. Aber es kam immer noch niemand, um den staubbedeckten Knaben von Blunderstone in Suffolk abzuholen.
Verlassener als Robinson Crusoe, den wenigstens niemand angaffte und dessen Verlassenheit keiner bemerkte, begab ich mich in den Schalterraum, verfügte mich auf die Einladung des Beamten hinter den Ladentisch und setzte mich auf die Gepäckwage. Während ich hier saß und die Pakete, Kisten und Bücher musterte und den Stallgeruch einatmete (der mir seitdem, sooft ich ihn irgendwo rieche, jenen Morgen ins Gedächtnis zurückbringt), begann eine Parade höchst bedenklicher Betrachtungen durch meinen Geist zu marschieren. Gesetzt, es holte mich niemand ab, wielange würden sie mich dann hier behalten? Würden sie mich dableiben lassen, bis meine sieben Schillinge zu Ende wären? Würde ich nachts in einem hölzernen Kasten mit dem übrigen Gepäck schlafen, und mir des Morgens das Gesicht am Brunnen im Hofe waschen dürfen? Oder würde man mich jede Nacht bei Schluß des Bureaus hinausjagen und erwarten, daß ich den nächsten Morgen bei Öffnung des Bureaus wiederkehre, um zu bleiben, bis ich abgeholt würde? Gesetzt, es sei gar kein Irrtum, und Mr. Murdstone habe sich den Plan ausgedacht, mich auf diese Weise loszuwerden, was sollte ich dann tun? Wenn sie mich auch wirklich hier bleiben ließen, bis meine sieben Schillinge zu Ende waren, so konnte ich doch nicht auf das Bleiben rechnen, wenn ich anfing zu verhungern. Das wäre gewiß den Reisenden unangenehm und widerwärtig gewesen, und hätte auch dem blauen Dingskirchen schließlich noch die Kosten für mein Begräbnis aufgebürdet. Wenn ich mich gleich aufmachte und versuchte nach Hause zurückzugehen, wie sollte ich den Weg finden, wie durfte ich hoffen, die Kräfte dafür zu behalten, und selbst wenn ich zurückkam, auf wen durfte ich zählen außer auf Peggotty? Wenn ich selbst die nächsten Behörden ausfindig machte und mich erbot, Soldat oder Matrose zu werden, so war es doch sehr unwahrscheinlich, daß sie mich nähmen, da ich noch ein so kleines Bürschchen war. Solche und hundert ähnliche Gedanken machten mich brühsiedendheiß, und mir schwindelte vor Sorge und Angst. Auf dem Höhepunkte dieses Fieberzustandes trat ein Mann in den Schalterraum und sagte leise etwas zu dem Beamten, worauf mich dieser von der Wage herunter und dem andern zuschob, als ob ich verkauft, gewogen, abgeliefert und bezahlt worden wäre.
Als ich Hand in Hand mit dem neuen Bekannten das Bureau verließ, warf ich einen verstohlenen Blick auf ihn. Es war ein hagerer, blasser junger Mann, mit hohlen Wangen und einem Kinn, das fast so schwarz war, wie Mr. Murdstones Kinn, aber damit hörte die Ähnlichkeit auf, denn sein Backenbart war wegrasiert, und das Haar war, anstatt glänzend schwarz, rostfarben und stumpf. Er trug schwarze Kleidung, die auch etwas rostfarben und stumpf, und an den Armen und den Beinen etwas zu kurz war, und hatte ein weißes, nicht allzu reines Tuch um den Hals. Ich setzte damals ebensowenig wie heute nicht voraus, daß dieses Halstuch alles Weißzeug war, was er auf dem Leibe hatte, es war aber weiter keins zu erblicken oder zu ahnen.
»Du bist der neue Schüler?« fragte er.
»Ja, Sir«, gab ich zur Antwort. – Ich vermute das wenigstens, denn ich wußte es ja noch nicht.
»Ich bin einer der Lehrer von Salemhaus«, sagte er.
Ich verbeugte mich und fühlte mich sehr unbedeutend. Ich schämte mich gleichzeitig sehr, etwas so Gewöhnliches, wie es doch mein Koffer war, einem Gelehrten und Lehrer von Salemhaus gegenüber zu erwähnen, so daß wir schon ein ganzes Stückchen weg waren, ehe ich die Kühnheit hatte, ihn daran zu erinnern. Auf meine bescheidene Äußerung, daß er für mich später immerhin von einigem Nutzen sein könne, kehrten wir um, und er sagte dem Schalterbeamten, daß der Fuhrmann angewiesen sei, den Koffer zu Mittag abzuholen.
»Erlauben Sie, Sir,« sagte ich, als wir ebensoweit wie vorher weg waren, »ist es weit?«
»Es ist unten bei Blackheath«, sagte er.
»Ist das weit, Sir?« fragte ich schüchtern.
»Es ist eine gute Strecke«, sagte er. »Wir fahren mit der Landkutsche, es sind immerhin ein paar Stunden.«
Ich war so müde und hungrig, daß der Gedanke, noch ein paar Stunden auszuhallen, zu viel für mich war. Ich faßte mir darum ein Herz und sagte zu ihm, daß ich seit gestern abend nüchtern sei, und daß ich ihm sehr dankbar sein würde, wenn er mir