»Mein Herzenskind!« sagte Peggotty mit unendlichem Mitleid. »Ich will dir nur das sagen – du darfst mich nie und niemals vergessen – denn ich werde dich auch nie und niemals vergessen. – Und, Davy, ich will deine Mama so sehr in acht nehmen, als ich dich in acht genommen habe – und ich werde sie nie verlassen – der Tag wird wohl noch kommen, wo sie gern ihren armen Kopf auf den Arm ihrer einfältigen mürrischen alten Peggotty legen wird. – Und ich werde dir schreiben, gutes Herz – obgleich ich nicht mit der Feder umzugehen weiß. Und ich will – ich will« – Peggotty fing an das Schlüsselloch zu küssen, da sie mich nicht küssen konnte.
»Danke, liebe Peggotty!« sagte ich. »O, ich danke dir! Ich danke dir! Willst du mir eins versprechen, Peggotty? Willst du an Mr. Peggotty und die kleine Em'ly und Mrs. Gummidge und Ham schreiben, daß ich nicht so schlecht bin, als sie denken könnten, und daß ich sie alle herzlich grüßen lasse –besonders die kleine Em'ly? Willst du das tun, liebe Peggotty?«
Die gute Seele versprach es mir, und wir beide küßten das Schlüsselloch mit der größten Zärtlichkeit – ich streichelte es sogar mit der Hand, wie ich mich noch entsinne, als ob es ihr ehrliches Gesicht wäre – und dann trennten wir uns. Seit dieser Nacht entstand in mir ein Gefühl für Peggotty, das ich nicht recht beschreiben kann. Sie trat etwa nicht an die Stelle der Mutter, denn das konnte niemand tun, aber sie füllte doch eine Leere in meinem Herzen aus und ich fühlte für sie etwas, was ich für kein anderes menschliches Wesen gefühlt habe. Es war eine auch mit dem Gefühl des Komischen vermischte Zärtlichkeit, und dennoch kann ich mir nicht denken, was ich hätte tun, oder wie ich den Schmerz hätte ertragen sollen, wenn sie gestorben wäre.
Früh morgens erschien Miß Murdstone wie gewöhnlich, und kündigte mir an, daß ich von jetzt an auf eine Schule kommen sollte, was mich natürlich nicht so sehr überraschte, als sie voraussetzte. Sie sagte mir auch, wenn ich angezogen sei, sollte ich hinunter in die Wohnstube zum Frühstück kommen. Dort fand ich meine Mutter sehr blaß und mit roten Augen. Ich eilte in ihre Arme und, bat sie aus tief zerknirschter Seele um Verzeihung.
»O Davy!« sagte sie. »Daß du jemand verwunden konntest, den ich liebe! Versuche, ein besseres Kind zu sein, ich bitte dich; ein besseres Kind! Ich verzeihe dir, aber es schmerzt mich so sehr, Davy, daß du ein böses Herz hast!« Sie hatten ihr eingeredet, ich wäre ein tückischer Junge, und das schmerzte sie mehr als mein Fortgehen. Auf mich machte es einen tiefen Eindruck. Ich versuchte mein Abschiedsfrühstück zu essen, aber die Tränen liefen mir auf meine Butterschnitte und tröpfelten in meinen Tee. Ich sah, wie mich meine Mutter manchmal anblickte und dann einen Blick auf die lauernde Miß Murdstone warf, und dann die Augen niederschlug oder wegsah.
»Master Copperfields Koffer bringen!« sagte Miß Murdstone, als draußen ein Wagen vorrollte. Ich sah mich nach Peggotty um, aber weder sie noch Mr. Murdstone erschien. Meine frühere Bekanntschaft, der Fuhrmann, stand an der Tür; er nahm den Koffer in Empfang und hob ihn in den Wagen.
»Klara!« sagte Miß Murdstone warnend.
»Ich bin bereit, liebe Jane«, sagte meine Mutter. »Leb' wohl, Davy. Du gehst um deines eigenen Besten willen. Lebe wohl, mein Kind. Du wirst die Feiertage wiederkommen und ein besserer Sohn sein.«
»Klara!« wiederholte Miß Murdstone.
»Ja, ja, liebe Jane«, entgegnete meine Mutter, die meine Hand noch immer festhielt. »Ich verzeihe dir, mein geliebtes Kind. Gott segne dich!«
»Klara!« wiederholte Miß Murdstone.
Miß Murdstone hatte die Gewogenheit, mich bis an den Wagen zu führen und mir unterwegs zu sagen, sie hoffe, ich werde bereuen, ehe ich zu einem schlechten Ende komme, und dann stieg ich in den Wagen, und der träge Gaul setzte sich langsam in Schritt.
Fünftes Kapitel. Von Hause fortgeschickt.
Wir mochten kaum ein Viertelstündchen gefahren sein und mein Taschentuch war ganz naß geworden, als der Wagen auf einmal stillhielt. Als ich hinausschaute, um die Ursache zu entdecken, sah ich zu meinem Erstaunen Peggotty hinter einer Hecke hervorbrechen und in den Wagen steigen. Sie schloß mich in beide Arme und drückte mich an ihren Schnürleib, bis der Druck auf meiner Nase sehr empfindlich wurde, obgleich ich dessen erst später bewußt wurde, als meine Nase etwas geschwollen war. Dabei sprach Peggotty kein einziges Wort. Sie ließ mich mit dem einen ihrer Arme los, streckte ihn bis an den Ellbogen in ihre Tasche und holte ein paar in Papier gewickelte Kuchen heraus, die sie mir in die Tasche stopfte, und ein Geldbeutelchen, das sie mir in die Hand drückte, aber sie sprach kein Wort. Nachdem sie mich noch einmal an ihren Schnürleib gedrückt hatte, stieg sie aus und lief fort, und wie ich glaube und immer geglaubt habe, diesmal ohne einen einzigen Knopf an ihrer Jacke. Von mehreren, die im Wagen herumkollerten, hob ich einen auf und bewahrte ihn noch lange Zeit als ein Andenken.
Der Fuhrmann sah mich an, als wollte er fragen, ob sie zurückkomme. Ich schüttelte den Kopf und sagte: Nein, ich glaube nicht. »Na, denn hott!« sagte der Fuhrmann zu seinem faulen Gaule, der sich wieder schwerfällig in Trott setzte.
Da ich mich jetzt so ziemlich ausgeweint hatte, fing ich an zu bedenken, daß mein Weinen doch zu nichts nütze wäre, vorzüglich, da weder Roderich Random, so viel ich mich besinnen konnte, jemals in schwierigen Lagen geweint hatte, noch jener Kapitän der königlich britischen Marine mit dem alten Stiefelknecht, den ich in meiner heimlichen Lektüre ebenfalls als einen Helden so sehr bewundert hatte. Als mich der Fuhrmann so getröstet sah, schlug er mir vor, mein Taschentuch zum Trocknen dem Pferde auf den Rücken zu legen. Ich dankte ihm und stimmte zu, und ganz besonders klein sah es aus, wie es dort draußen ausgebreitet lag.
Ich hatte jetzt Muße, die Börse zu untersuchen. Es war ein kleines, ledernes Beutelchen mit einem Schloß, und darin waren drei glänzende Schillinge, die Peggotty, damit es mir mehr Freude machte, sicherlich mit Putzpulver poliert hatte. Aber sein kostbarster Inhalt bestand aus zwei halben Kronen in ein Papier gewickelt, auf das mit meiner Mutter Hand geschrieben stand: »Für Davy. Mit meiner Liebe.« Ich war davon so gerührt, daß ich den Fuhrmann bat, er möchte doch so gut sein, mir das Taschentuch wieder hereinzuholen, aber er meinte, es wäre besser, wenn ich mich ohne das behülfe, und ich dachte es am Ende auch, wischte mir also die Augen mit dem Rockärmel und suchte meine Rührung zu bezwingen.
Und es gelang mir, obgleich sich manchmal ein heftiges Aufschluchzen Luft machte. Nachdem wir eine Weile im Schneckentempo so weiter gefahren waren, fragte ich den Fuhrmann, ob er die ganze Reise mit mir mache?
»Reise, wohin?« fragte der Fuhrmann.
»Dorthin«, sagte ich.
»Wo ist das dorthin?« fragte der Fuhrmann.
»Bei London«, sagte ich.
»Na,« sagte der Fuhrmann feierlich und wies mit einem Ruck des Zügels auf das Tier, »dann wäre das Pferd mausetot, ehe wir halb hinkämen.«
»Wir fahren also nur bis Yarmouth?« fragte ich.
»Getroffen«, sagte der Fuhrmann. »Und dort bringe ich Euch zur Landkutsche, und die Landkutsche bringt Euch nach Euerm Dingsda.«
Da das für den Fuhrmann, der Barkis hieß, eine sehr lange Rede war – denn er war, wie ich früher bemerkte, von phlegmatischem Temperament und nichts weniger als redselig – so bot ich ihm als ein Zeichen der Aufmerksamkeit einen Kuchen an, den er auf einen Bissen hinunterschlang wie ein Elefant, und der auf sein breites Gesicht nicht mehr Eindruck machte, als er es auf eines Elefanten Gesicht gemacht hätte.
»Hat sie sie gemacht, he?« sagte Mr. Barkis, der immer vorwärts gebeugt auf seinem Sitze hockte und einen Arm auf jedes Knie stützte. »Peggotty, meinen Sie?«
»Hm!« sagte Mr. Barkis. »Sie.«
»Ja. Sie