Mir scheint fast, daß meine Studien in jener fernliegenden Zeit fast regelmäßig derart verliefen:
Und ich hätte ohne die Murdstones so gut arbeiten können, aber ihre Gegenwart war von einem Einfluß auf mich gleich dem Zauber zweier Schlangen auf ein junges Vöglein. Selbst wenn ich leidlich gut am Vormittag abgeschnitten hatte, gewann ich damit kaum etwas anderes, als das Mittagbrot. Denn, sowie mich Miß Murdstone nur ein Weilchen ohne Aufgabe sah, sogleich lenkte sie ihres Bruders Aufmerksamkeit darauf, indem sie sagte: »Klara, meine Liebe, es geht nichts über die Arbeit – gib deinem Jungen eine Übung auf.« – Und flugs wurde mir eine neue Aufgabe aufgehalst. Von einer Erholung unter Altersgenossen war daher bei mir so gut wie nicht die Rede, denn die düstere Religion der Murdstones hielt bereits die Kinder für ein so verdorbenes Otterngezücht (und doch ward einst ein Kind in die Mitte der Jünger gestellt!), daß sie untereinander die gegenseitige Verderbnis nur förderten.
Die natürliche Folge dieser Behandlungsweise, die vielleicht ein halbes Jahr gedauert haben mochte, war die, daß ich ein Kind von schweren Begriffen und von mürrischer und verstockter Gemütsart wurde. Und was nicht wenig dazu beitrug, war das Gefühl, daß ich mich meiner Mutter täglich mehr entfremdete: ich glaube, ohne einen glücklichen Umstand wäre ich fast blödsinnig geworden.
Es war dies folgender. Mein Vater hatte eine kleine Büchersammlung in einem Zimmerchen neben meiner Schlafstube hinterlassen, zu der ich Zutritt hatte und um die sich niemand kümmerte als ich. Aus diesem gesegneten kleinen Stübchen kam eine erhabene Schar von Helden zu mir: Roderick Random, Peregrine Pickle, Humphrey Clinker, Tom Jones, der Vicar von Wakefield, Don Quixote, Gil Blas und Robinson Crusoe, eine herrliche Schar, um mir Gesellschaft zu leisten. Sie erhielten meine Phantasie und meine Hoffnungen lebendig darauf, daß es noch etwas jenseits dieses Ortes und dieser Zeit gäbe – sie, und Tausend und eine Nacht und die persischen Märchen – und taten mir keinen Schaden, denn das Unreine, das in einigen war, war für mich nicht da, weil ich nichts davon wußte. Ich muß mich wirklich noch jetzt wundern, wie ich in meiner Plackerei über anstrengende und obendrein unlösbare Aufgaben noch Zeit fand, diese Bücher so zu lesen, wie ich es tat. Es kommt mir wunderbar vor, wie für mich in meinen kleinen Leiden (es waren aber damals für mich sehr schwere Leiden) ein Trost war, wenn ich die Rollen meiner Lieblingscharaktere in diesen Geschichten auf mich übernahm und Mr. und Miß Murdstone die Rollen von Bösewichtern übertrug. Ich bin eine ganze Woche lang Tom Jones gewesen – ein sehr kindlicher harmloser Tom Jones! – Die Rolle Roderick Randoms, wie er mir erschien, habe ich einen Monat lang gespielt. Einen wahren Heißhunger hatte ich auf ein paar Bände Reisebeschreibungen in diesem Bücherschrank! Ich weiß nicht mehr, wie sie hießen.
Tage und Tage lang ging ich durch meine Region des Hauses bewaffnet mit dem Mittelstück aus einem alten zerbrochenen Stiefelständer, als leibhaftiges Ebenbild von Kapitän X. der königlich britischen Marine, der in Gefahr ist, von Wilden überfallen zu werden und sein Leben teuer zu verkaufen beabsichtigt. Es tat der Würde dieses Kapitäns keinen Abbruch, daß er fast täglich mit der lateinischen Grammatik geohrfeigt wurde. Diese Schande traf nur mich: der Kapitän selbst blieb Kapitän und war ein Held trotz allen Grammatiken in sämtlichen lebenden und toten Sprachen.
Das war mein einziger und beständiger Trost. Wenn ich daran denke, tritt mir immer ein Sommerabend vor Augen, wie die Kinder draußen auf dem Kirchhofe spielten und ich auf dem Bette saß und so eifrig las, als ob es das Leben gelte. Jede Scheune in der Nachbarschaft, jeder Stein in der Kirche, jeder Fußbreit Erde auf dem Kirchhofe stand in meiner Seele mit diesen Büchern in ganz besonderer Verbindung und vertrat die Stelle einer in ihnen berühmt gewordenen Örtlichkeit. Tom Pipes kletterte auf unsern Kirchturm, Strap mit dem Ränzel auf dem Rücken lehnte sich an unsere Gartentür, und ich war davon durchdrungen, daß Kommodore Trunnion und Mr. Trunnion ihre Klubsitzungen in der Gaststube unserer kleinen Dorfschenke abhielten.
Der Leser weiß jetzt so gut wie ich, wie und was ich war, als das Ereignis eintrat, das für meine Jugendgeschichte zum Wendepunkt wurde und das ich jetzt erzählen will.
Eines Morgens, als ich mit meinen Büchern in die Wohnstube trat, bemerkte ich, daß meine Mutter sehr verängstigt und Miß Murdstone sehr fest aussah, und Mr. Murdstone etwas um das untere Ende eines Rohrstöckchens wickelte. Es war ein geschmeidiges und schmächtiges Röhrchen, das er soeben gebrauchsfertig hergerichtet hatte und wie ich eintrat, in der Hand wog und auf und ab schwippen ließ.
»Ich sage dir, Klara,« sagte Mr. Murdstone, »ich habe selbst oft Schläge gekriegt.«
»Allerdings, natürlich«, bestätigte Miß Murdstone.
»Gewiß, liebe Jane«, stammelte meine Mutter demütig. »Aber – aber meinst du, daß es Eduard gut getan hat?«
»Meinest du, daß es Eduard geschadet hat, Klara?« fragte Mr. Murdstone feierlich. »Das ist eben die Frage!« sagte seine Schwester.
Darauf wiederholte meine Mutter: »Gewiß, liebe Jane!« und sagte weiter nichts.
Mich überschlich das Gefühl, daß ich bei dem Zwiegespräche persönlich beteiligt sei, und ich suchte Mr. Murdstones Blick, der sich drohend auf mich heftete.
»Nun, David,« sagte er – und wieder mit jenem schielendfalschen Blick – »du mußt dich heute viel mehr in acht nehmen als gewöhnlich.« Er wog das Röhrchen gleichsam noch einmal in der Hand und ließ es wieder auf und nieder wippen. Dann legte er es mit einem ausdrucksvollen Blick neben sich bereit und nahm das Buch zur Hand.
Als Anfang war dies schon ein vortreffliches Auffrischungsmittel für meine Geistesgegenwart. Ich fühlte, wie die Worte meiner Lektion unaufhaltsam dem Gedächtnis entschlüpften, nicht einzeln oder zeilenweise, sondern gleich seitenweise. Ich versuchte, ihrer wieder habhaft zu werden, aber es war gerade, wenn ich mich so ausdrücken darf, als ob die infamen Worte Schlittschuhe anhätten und mit einer unaufhaltsamen Schnelligkeit hinwegglitten.
Die Sache fing schon schlecht an und ging noch schlechter fort. Ich war mit dem Gedanken ins Zimmer getreten, mich heute recht auszuzeichnen, denn ich glaubte, recht gut vorbereitet zu sein; aber es stellte sich als ein vollständiger Irrtum heraus. Ein Buch nach dem andern türmte sich auf und vermehrte den Haufen der Rückstände, und Miß Murdstone wendete die ganze Zeit über das Auge nicht von uns weg. Und als wir endlich zu den fünftausend Käsen kamen (diesmal machte er fünftausend Rohrstöckchen daraus, wie ich mich wohl erinnere), fing meine Mutter zu weinen an.
»Klara!« rief Miß Murdstone warnend.
»Ich fürchte, ich bin nicht ganz wohl, liebe Jane«, sagte meine Mutter.
Ich sah, wie er seiner Schwester bedeutungsvoll zublinkte, als er aufstand, das Rohr nahm und sagte: »Jane, wir können kaum erwarten, daß Klara mit vollkommener Festigkeit den Ärger und die Qual erträgt, die David ihr heute verursacht hat. Das wäre wahrhaft stoisch. Klara hat sich sehr gebessert, aber wir können kaum so viel von ihr erwarten. David, Junge, komm, wir wollen beide hinaufgehen.«
Als er mich beim Kragen zur Tür hinausschob, eilte meine Mutter uns nach. Miß Murdstone sagte: »Klara, du bist doch eine vollständige Törin!« und hielt sie auf. Ich sah, wie meine Mutter sich die Ohren zuhielt, und hörte sie weinen.
Er führte mich in mein Zimmer: langsam und feierlich – ich bin überzeugt, es machte ihm teuflische Freude, die