Stadtrat Sinclair hatte eine so trübe Aura, dass ich wenig Lust verspürte, ihn näher kennenzulernen. So viele seiner Energiebahnen waren grau verschleiert von krankhaftem Ehrgeiz, Lügen und gescheiterten Beziehungen, dass sein gesamter Geist auf einen ungesunden, matten Glanz reduziert war. Der Rechtsanwalt neben ihm war ein ähnliches Kaliber, vielleicht geringfügig frischer. Immerhin betrog er seine Frau nicht. Aber das war auch schon der einzige Unterschied zwischen den beiden.
»Wow«, murmelte ich leise vor mich hin. »Eine Natter im Anzug. Ganz im Ernst, ich kann Politiker nicht ausstehen.«
Donovan ignorierte die einleitenden Floskeln von Borrowman, der sich gerade hinsetzte. »Und, ist er schuldig?«
»Auf jeden Fall. Aber nicht an dem Mord. Borrowman hat gut daran getan, mich anzurufen.« Ich deutete auf das Walkie-Talkie, und Donovan hielt es hoch. Der Sendekanal war offen. Ich sprach extra deutlich. »Borrowman, das ist nicht Ihr Mann. Er hat aber etwas anderes ausgefressen.«
Der Nachteil unseres Systems war, dass Borrowman nicht offenlegen durfte, dass ihm jemand etwas soufflierte, und somit auch keine Rückfragen stellen konnte. Aber ich hatte genug gesagt, um ihn in die richtige Richtung zu lenken. Jetzt beobachtete ich gespannt den Bereich genau unter dem Herzen des Politikers. Dort lag das dritte Chakra, das für Selbstbeherrschung, Zielstrebigkeit, Sehnsüchte, Wut und alles Mentale stand. Wer auch immer die Zuordnungen zu den Chakren vor Jahrtausenden festgelegt hatte, hatte wirklich gewusst, was er tat. Vielleicht war es auch ein Medium wie ich gewesen, denn die zugeordneten Qualitäten wurden für mich genau an der Stelle des dritten Chakras sichtbar.
Die Energiebahn, die in den Solarplexus hinein- und darum herumführte, bewegte sich schwach. Sie war dunkelgrau getönt, was bedeutete, dass er etwas getan hatte, worauf er nicht stolz war. Aber er bereute es auch nicht. Vermutlich war er noch nicht erwischt worden. Oder er dachte, dass er damit durchkommen würde. Männer wie er bereuten ihre Taten meist erst, wenn ihre Machenschaften aufgeflogen waren.
Die einleitenden Worte waren gewechselt, und Borrowman kam zur Sache. »Mr Sinclair, was wissen Sie über Marsha Brown?«
»Eine junge College-Studentin, die vergangene Woche verschwunden ist«, sagte Mr Sinclair aalglatt mit höflich-distanziertem Interesse. Er war der Typ Mann, den Menschen schnell ins Herz schlossen: weder besonders hässlich noch besonders gut aussehend. Er sah aus wie der Junge von nebenan.
»Sie meinen, die vergangene Woche umgebracht wurde«, verbesserte Borrowman betont höflich.
»Oh, ist das bereits erwiesen? Das wusste ich ja noch gar nicht. In den Nachrichten wurde das nicht so deutlich.«
»Beziehen Sie Ihre Informationen wirklich aus den Nachrichten? Ich muss sagen, Ihre Reaktion auf die ganze Sache ist etwas befremdlich, Mr Sinclair. Immerhin waren Sie vier Monate mit Ms Brown liiert. Nimmt es Sie denn gar nicht mit, dass sie tot ist?«
Bei dieser Frage begann der Rechtsanwalt unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her zu rutschen. Um seinen Klienten zur Vorsicht zu ermahnen, legte er stumm die Hand auf den Tisch.
Sinclair hielt den Kopf schief und zog verwirrt die Augenbrauen zusammen. »Ach? Wie kommen Sie denn darauf, dass wir zusammen waren?«
»Sie hatte Fotos von Ihnen beiden auf ihrem Handy gespeichert, außerdem haben wir zahlreiche Textnachrichten und ihre Anrufliste gefunden«, antwortete Borrowman, nun etwas unwirsch. »Nun kommen Sie schon, Sinclair. Ich bin ziemlich sicher, dass Sie sie nicht umgebracht haben, und ich will es Ihnen auch gar nicht in die Schuhe schieben. Geben Sie einfach die Affäre zu, und helfen Sie mir dabei, zu rekonstruieren, wann sie genau verschwunden ist. Ich brauche Informationen – Fakten –, damit ich dieser Sache auf den Grund gehen kann.«
Sehr zögerlich musterte Sinclair den Detective, als sei er nicht sicher, ob er ihm glauben sollte. Dann wechselte er einen langen Blick mit dem Rechtsanwalt.
Wieder deutete ich auf das Walkie-Talkie, und Donovan hielt es für mich hoch. »Ich sehe drei Linien. Seine Ehe steht kurz vor dem Aus. Er war nicht glücklich darüber, dass Marsha sich von ihm getrennt hat, und hat immer noch Gefühle für sie. Aber er hat auch schon eine Neue, für die er noch mehr empfindet.«
Borrowman zuckte nicht mit der Wimper, als ich ihm das alles eröffnete. »Wir wissen, dass Sie schon eine neue Geliebte haben. Von der ahnt Ihre Frau wahrscheinlich noch nichts? Aber es spielt ja eigentlich auch keine große Rolle, denn Sie wollen sich sowieso scheiden lassen.«
Mr Rechtsanwalt ergriff zum ersten Mal das Wort. »Jetzt gehen Sie aber zu weit, Detective.«
Der Politiker schluckte und wurde ganz blass. »Wie … Woher wissen Sie …?«
»Weil ich Polizist bin und meinen Job gut mache«, bluffte Borrowman in leicht gelangweiltem Ton und lehnte sich mit den Unterarmen auf den Tisch. »Ihr Liebesleben ist mir auch völlig egal, Mr Sinclair. Ich will nur mehr über Marsha Brown erfahren. Wann haben Sie sich getrennt?«
Ein weiterer vielsagender Blick zwischen Sinclair und dem Anwalt, dann nickte der ältere Mann zustimmend.
»Vor zwei Wochen«, gab Sinclair schließlich mit einem Seufzer zu. Er ließ den Blick unruhig im Raum herumwandern und sah Borrowman nicht in die Augen. »Sie hat Schluss gemacht, weil ich mich geweigert habe, mich scheiden zu lassen. Aber ich habe meine Gründe dafür, bei meiner Frau zu bleiben.«
»Karrieregründe«, informierte ich Donovan, weil ich es mir nicht verkneifen konnte. »Die Frau ist so eng mit seinen Ehrgeiz- und Karrierebahnen verknüpft, dass ich sie kaum auseinanderhalten kann.«
Donovan pfiff leise durch die Zähne, während er Sinclair durch das Glas anstarrte. »Kein guter Grund, um verheiratet zu bleiben.«
»Sehe ich auch so.« Ich verstummte, um Borrowmans nächste Frage hören zu können.
»… hatten Sie Kontakt zu Ms Brown?«
»Nein. Obwohl, das stimmt nicht ganz. Einmal. Sie hatte etwas in meinem Auto vergessen, und meine Frau hätte es fast gefunden, also musste ich es verstecken und Marsha überreden, es abholen zu kommen. Sie war nicht gut auf mich zu sprechen, also ist sie nicht lange geblieben. Das war – äh, Samstag. Vorletzten Samstag. Wir haben uns nach dem Baseballspiel meines Sohnes kurz im Büro getroffen. Danach hatten wir keinen Kontakt mehr.«
»Um welche Uhrzeit war das?«, setzte Borrowman nach.
»Ich weiß es nicht genau. Davids Spiel war gegen drei zu Ende, der Weg zum Büro dauert zwanzig Minuten, also gegen halb vier vielleicht?«
Donovan drückte auf den Sprechknopf, und ich lächelte ihn kurz an. Er hatte schon gewusst, dass ich etwas sagen wollte – er hatte schnell gelernt, mich richtig einzuschätzen. »Stimmt, aber er verschweigt etwas. Fragen Sie nach.«
»Und Sie haben sie danach weder gesehen noch ihr Nachrichten geschrieben oder Ähnliches?«
»Nein.«
Irgendetwas stimmte nicht, der Meridian hüpfte und zuckte immer noch unruhig auf und ab. »Er lügt nicht direkt, aber er verheimlicht immer noch etwas.«
»Und jemand anders? Der Ms Brown kannte? Haben Sie mit jemandem gesprochen, der sie kannte, oder haben Sie über sie gesprochen?«
»Nein.«
»Gelogen«, flötete ich. »Glatt gelogen.«
Borrowman beugte sich vor, und in seinem Ton schwang jetzt eine leichte Drohung mit. »Mr Sinclair, Sie sind bisher bei der Wahrheit geblieben. Bitte fangen Sie jetzt nicht an, uns etwas vorzuenthalten. Mit wem haben Sie über Marsha Brown gesprochen?«
Jetzt begannen sich zum ersten Mal kleine Schweißperlen auf Sinclairs Stirn zu bilden. Er war viel zu routiniert, um eine Miene zu verziehen oder offensichtlich zappelig zu werden, aber innerlich wand er sich. »Niemand wusste von unserer Affäre. Mit wem hätte ich denn darüber sprechen sollen?«
»Und doch haben Sie es getan«, beharrte Borrowman. »Mit wem? Und warum?«