»War auch nur einer von denen wie Donovan Havili?«, setzte Jim nach. Seine Entschlossenheit war deutlich zu spüren, und seine Meridianlinien spiegelten eine seltsame Mischung aus Hoffnung, freudiger Erwartung und Erleichterung wider. Das ärgerte mich etwas – schließlich hatte ich ja noch gar nicht zugestimmt.
Aber es schien ganz so, als wäre das nur eine Frage der Zeit. »Noch nicht mal ansatzweise«, gab ich mit einem Seufzer zu. »Ich will ja gar nichts gegen ihn sagen. Aber ich bin nun mal schwer auszuhalten, vor allem über einen längeren Zeitraum. Wollen Sie wirklich riskieren, dass er gleich wieder kündigt, indem Sie ihn als Erstes mit mir zusammenstecken?«
»Jon. Sie arbeiten gerade an mehreren Fällen gleichzeitig. Sie haben mehr und mehr Einsätze bei der Polizei. Und die Hälfte der Leute, gegen die Sie ermitteln, sind Mörder oder Serienkiller. Ich möchte nicht, dass Sie wieder im Dienst verletzt werden.« Er fuhr sich mit der Hand durch die grau gesprenkelten Haare. »Aber Sie haben auch nicht unrecht. Probieren Sie es einen Monat aus. Und wenn es nicht funktionieren sollte, gebe ich ihm eben den Job, auf den er sich eigentlich beworben hat.«
»Einverstanden«, stimmte ich ohne Zögern zu. Ob ich mit dem Neuen zurechtkommen würde oder nicht, musste sich zeigen, aber dass man so jemanden nicht einfach ziehen lassen durfte, war offensichtlich. Wir brauchten gute Leute. Die nötigen Qualifikationen schien er zu haben, sonst hätte Jim ihn gar nicht erst zum Vorstellungsgespräch gebeten.
Nickend öffnete Jim die Tür und trat hinaus. »Na, dann wollen wir mal.«
Ich war hin- und hergerissen zwischen Überschwang und Nervosität. Wenn sich die anderen erst mal an ihn gewöhnt hatten, würde er gut in die »Psy« passen. Ich wollte aber keinesfalls der Grund dafür sein, dass er schon nach kurzer Zeit alles wieder hinwarf. Also. Ruhig Blut. Professionell sein. Ich rückte meine Weste gerade und folgte Jim in sein Büro. Und dann sah ich mir den Mann, der in Kürze mein Partner werden würde, zum ersten Mal richtig an.
Ah, jetzt verstand ich, warum die anderen ihn ein bisschen unheimlich fanden.
Von außen betrachtet war er ein echtes Raubein. Er hatte zum Vorstellungsgespräch ein langärmeliges Hemd und ordentliche Jeans angezogen, ganz offensichtlich um einen professionellen Eindruck bemüht. Aber unter seinem Kragen und an den Handgelenken blitzten rote und schwarze Tattoos hervor. Nein, Moment. Das waren keine Tätowierungen. Das waren Narben. Ich sah die Energielinien des zerstörten Gewebes und zuckte zusammen. Das waren Säureverätzungen.
Wer zum Teufel kippt bitte schön einem anderen Menschen Säure über den Körper?
Abgesehen von den Narben hatte er breite Schultern und eine Statur wie ein Gewichtheber. Er war locker doppelt so breit wie ich und hatte kein Gramm Fett am Leib. Selbst ein Sumoringer würde bei seinem Anblick ins Grübeln kommen. Seine Hautfarbe ließ auf hawaiianische Vorfahren schließen, und seine Meridianlinien gingen auf jeden Fall auf diese Herkunft zurück. Sein Körperbau dagegen sah mehr nach Tonga aus. Ethnische Zugehörigkeiten zu erkennen, war nicht meine Stärke, aber ich war ziemlich sicher, dass ich seine richtig gedeutet hatte.
»Donovan Havili, Jonathan Bane«, stellte Jim uns vor.
Ich gab ihm die Hand und konnte mir ein breites Lächeln nicht verkneifen. »Freut mich sehr.«
»Ganz meinerseits«, antwortete er leicht verdutzt und schüttelte mir die Hand. Er war nicht der Typ für einen zu festen oder dominanten Händedruck, aber seine Stärke war spürbar.
»Sie fragen sich bestimmt, wer ich bin und wieso ich hier so einfach hereinplatze. Lassen Sie es mich erklären.« Ich nahm neben ihm Platz und wandte mich ihm zu. Dann überlegte ich es mir noch mal anders: Taten statt Worte. »Nein, noch besser ist, ich demonstriere es Ihnen und erkläre dann. Also: Sie sind 34 Jahre alt, waren fünfzehn Jahre lang beim Militär, davon eines im … Krankenhaus? Rehazentrum? Wegen des Säureangriffs. Es tut mir wirklich leid, das muss die Hölle gewesen sein. Sie sind hauptsächlich hawaiianischer Abstammung, haben aber auch afroamerikanische Wurzeln. Sie sind Single und kinderlos, haben aber ein sehr enges Verhältnis zu … Ihren Eltern, Ihrem Bruder und Ihrer Schwester? Ich bin nicht ganz sicher, ob sie Ihre Schwester oder Ihre Schwägerin ist, aber es ist klar, dass Sie sie als Schwester betrachten. Heute Morgen haben Sie noch nichts gegessen. Vielleicht waren Sie nervös wegen des Vorstellungsgesprächs? Darüber hinaus sind Sie einer der beeindruckendsten Menschen, die mir je begegnet sind, und Sie haben einen Beschützerinstinkt, bei dem Captain America blass werden würde.«
Seine goldbraunen Augen in dem kastanienbraunen Gesicht wurden ganz groß. »Wie zum Teufel …?«
»Jon ist eines unserer Medien«, erklärte Jim lächelnd. Es war ihm immer wieder ein Vergnügen, mir bei dieser Showeinlage zuzusehen.
»Er nennt es ›Medium‹, weil es für mich kein wirklich passendes Wort gibt. Was ich eigentlich tue, ist, Ihre Energie zu lesen«, fügte ich gestikulierend hinzu. »Kennen Sie die indische Tradition der Chakren? Es ist so etwas in der Art, nur dass es richtige Energielinien gibt. Ich sehe viel, wenn ich diese Linien lese.«
»Und Sie können mir glauben: Er hat wesentlich mehr gesehen als das, was er gerade aufgezählt hat«, fügte Jim mit einem vielsagenden Blick auf mich hinzu. »Aus irgendwelchen Gründen hält er es für nötig, diskret zu sein.«
»Ich bin eben Kriminalmedium und keine Plaudertasche«, gab ich gespielt brav zurück.
»Sie sind außerdem eine Nervensäge«, brummte Jim. »Mr Havili, ich will ganz offen sein. Jon ist einer unserer besten Leute, aber man hat wirklich alle Hände voll zu tun mit ihm. Aufgrund seiner Gabe kann er nichts Elektronisches anfassen. Kein Telefon, keinen Computer, die meisten Autos auch nicht. Sie gehen innerhalb von Sekunden kaputt. Er hat außerdem die schlechte Angewohnheit, alles um sich herum zu vergessen, wenn er auf eine Lesung konzentriert ist. Letztes Jahr ist er deswegen in eine Schießerei geraten.«
»Es wurde auf mich geschossen. Er hat mich gar nicht richtig erwischt«, verbesserte ich gereizt.
»Und was ist mit der Narbe an Ihrem Bauch?« Jim erinnerte mehr denn je an eine Bulldogge.
»Ist doch nur ’ne Fleischwunde«, kommentierte ich mit meiner besten Monty-Python-Stimme.
Havili verkniff sich ein Lachen.
Offensichtlich um Geduld bemüht, rollte Jim nur mit den Augen. Er ignorierte mich und fuhr fort. »Was ich brauche, ist ein Partner für Jon, jemand, der ihm Rückendeckung gibt, wenn er arbeitet, und der sich um alles kümmern kann, wozu Jon nicht in der Lage ist. In Ihrem Lebenslauf steht, dass Sie eine Zeit lang bei den Special Forces waren, bevor Sie zur Militärpolizei gewechselt sind. Sie müssten sich also mit Tatorten und Ähnlichem auskennen, richtig?«
»Ja, Sir«, antwortete Havili.
Was war das für ein Akzent? Er war irgendwo im Westen aufgewachsen, ich konnte erkennen, dass er in der Wüste gelebt hatte. Nach den Südstaaten klang er aber nicht. Ich liebte Rätsel, die ich nicht auf Anhieb lösen konnte.
»Sie können also tippen und Berichte schreiben? Jon schreibt ja immer alles mit der Hand, und Marcy hilft mit dem Abtippen, wenn sie Zeit hat, aber es wäre natürlich viel besser, wenn sein Partner das erledigen könnte. Sie sind sowieso immer mit am Tatort und können alles ergänzen, was er nicht mitbekommen hat.«
»Ja, Sir. Ich kann ganz gut tippen. Der Papierkram macht mir nichts aus. Gehört eben zum Job.« Dann wandte er sich mir zu und betrachtete mich so durchdringend, dass ich kurz das Gefühl hatte, auch er könne meine Energielinien lesen. »Bevor Sie reingekommen sind, war ich ziemlich sicher, dass ich das Vorstellungsgespräch gerade in den Sand setze. Aber Sie haben sich offensichtlich für mich starkgemacht. Warum?«
»Wie gesagt: Sie sind der beeindruckendste Mann, den ich je gesehen habe.« Ich tat mein Bestes, um meine Worte nicht so zu wählen, als wollte ich ihn anbaggern. Das war nicht ganz einfach,