Ein Schuss kommt selten allein. Johanna Hofer von Lobenstein. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Johanna Hofer von Lobenstein
Издательство: Bookwire
Серия: Jons übernatürliche Fälle
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783948457037
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Trennwände zwischen den Arbeitsplätzen standen auch noch. Meine Kollegen hatten sich rechts hinten in unserem Großraum um die Kaffeemaschine versammelt. Allerdings hatte niemand Kaffee aufgesetzt. Das ließ meine Alarmglocken läuten – Kaffee war das Lebenselixier dieser Agentur.

      Ich machte einen Bogen um den verwaisten Schreibtisch der Empfangsdame und ging auf das Grüppchen zu. Sollte ich prüfen, ob meine Waffe korrekt im Schulterholster saß? Da standen vier Menschen, die täglich mit Kriminellen zu tun hatten, dicht gedrängt wie verängstigte Schafe – irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht.

      »Jon.« Marcy streckte mir eine Hand entgegen und packte mich am Ellbogen. Ihre raue Stimme war zu einem dramatischen Flüstern gesenkt. »Bin ich froh, dass du da bist. Vielleicht weißt du ja, was Sache ist.«

      »Wobei denn? Ihr seht aus, als wärt ihr kurz davor, euch unter den Tischen zu verstecken. Haben wir eine Bombendrohung erhalten?« Oh bitte, keine Bombe. Die letzte hatte ich selbst entschärfen müssen, und diese Erfahrung brauchte ich nicht noch mal, danke auch.

      Tyson beugte sich zu mir, den Blick fest auf die Bürotür des Chefs gerichtet. Selbst er, mit seinen zehn Jahren Erfahrung als Polizist, schien kurz davor, die Waffe zu zücken. »Jim hatte doch erzählt, dass sich heute ein weiterer Kriminalberater vorstellen wollte.«

      Und an so etwas sollte ich mich nach nur drei Schlucken Kaffee erinnern? »Kann sein?«

      »Vor zehn Minuten kam der Typ da rein. Ich sage dir, wenn ich noch Polizist wäre, würde ich den Kerl erst mal abtasten. Er sieht aus wie ein Verbrecher.«

      Ich wandte mich zum Bürofenster, durch das wir wie durch einen Bilderrahmen ins Chefzimmer schauen konnten. Aber wegen des Sichtschutzes konnte ich nur einen Blick auf den Hinterkopf des Mannes erhaschen. Außerdem hatte ich noch nicht die mittelstarke Sonnenbrille aufgesetzt, was auch nicht gerade hilfreich war. Ich wechselte also die Brille und fragte: »So gefährlich?«

      »Auf dem Bewerbungsfoto hat er gut ausgesehen«, meinte Sharon bedauernd. Sie wickelte sich fester in die blaue Strickjacke, um die kühl eingestellte Klimaanlage zu kompensieren. »Aber vom Hemdkragen abwärts ist er voller Tattoos, seine Haare sind so kurz rasiert, dass es wirkt wie eine Glatze, und er hat diese Ausstrahlung, na, du weißt schon.«

      »Als ob er kleine Kinder zum Frühstück frisst und an rituellen Schlachtungen von Hundebabys teilnimmt«, stimmte Marcy heftig nickend zu.

      Carol lehnte an der billigen Pressspan-Arbeitsplatte und trommelte mit ihren langen Fingernägeln gegen ihre Tasse. Sie hatte sich Tee gemacht, dessen Duft ich bis hierher riechen konnte. Carol war schon länger hier beschäftigt als ich. Sie war das erste Medium bei der Psy Consulting Agency gewesen, und wir beide waren grundverschieden. Sie war eine »Seherin« im traditionelleren Sinne, das heißt, sie konnte nachverfolgen, welchen Weg Gegenstände genommen hatten. Carol war außerdem gerade die Einzige, die keine Panik hatte. Dafür sah sie mit nachdenklich zusammengekniffenen braunen Augen hinüber zu Jims Büro.

      »Ist wirklich komisch«, meinte sie dann. »Ich empfange absolut keine negativen Schwingungen von ihm.«

      »Dein Übersinnlichkeitsradar muss kaputt sein«, belehrte Tyson sie knapp. »Lass ihn reparieren.«

      »Nein, jetzt mal im Ernst. Ich kann weder Aggression noch sonstige negative Emotionen erkennen«, beharrte Carol und strich sich eine braune Locke hinters Ohr. »Ich konnte ihn gerade recht gut lesen, als er an mir vorbeilief.«

      »Ich will eine zweite Meinung.« Sharon hob die Hand, als wollte sie abstimmen. »Jon?«

      »Na gut«, stimmte ich zu, hauptsächlich, um eine Auseinandersetzung zu vermeiden. Ich vertraute Carols Urteilsvermögen. Wenn von diesem Typ keine schlechten Schwingungen bei ihr ankamen, dann gab es auch keine.

      In weiser Voraussicht machte ich einen Bogen um die Schreibtische der anderen und deponierte nur kurz Tasche und Kaffee an meinem eigenen Arbeitsplatz. Von dem Kaffee nahm ich schnell noch einen Schluck. Dann trat ich hinaus, um den Mann, der im Büro des Chefs saß, genauer zu lesen.

      Und schon der erste Eindruck verschlug mir der Atem.

      Einen Augenblick lang schien die Zeit stillzustehen. Ich konnte zwar von hinten nicht alles wahrnehmen, aber was ich sah, reichte aus. Kräftig leuchtende Chakren und Energiebahnen, die mir alles sagten, was ich wissen wollte – und mehr. Ich musste mich darauf konzentrieren, weiterzuatmen. In meinem ganzen Leben war mir noch nie ein so unglaublicher, von Grund auf guter Mensch untergekommen.

      Ich befeuchtete meine trockenen Lippen, dann steuerte ich, ohne zu zögern, auf Jims Büro zu und platzte hinein. Er schaute mich verdutzt an, als ich so abrupt eintrat, seine dunklen Augenbrauen zogen sich zusammen, und die Fältchen um seine Augen und den Mund vertieften sich. »Jon. Alles okay?«

      »Ich muss Sie mal kurz sprechen.« Mein Ton ließ keinen Zweifel daran, dass er aufstehen sollte, und zwar sofort. Ich musste mich wirklich zusammennehmen, um den neuen Mann nicht anzusehen. Mir war klar: Wenn ich auch nur einen Blick auf ihn warf, würde ich ihn anstarren.

      Jim hatte begriffen, wie dringend es war, nickte zustimmend und wandte sich an seinen Gast. »Entschuldigen Sie mich einen Augenblick, Mr Havili.«

      »Natürlich.«

      Angenehme Stimme. Dunkel, sanft, aber nicht zu glatt. Stopp. Nicht verleiten lassen, hinzusehen. Ich ging rückwärts wieder hinaus und schlüpfte in mein Büro, wo uns niemand hören konnte.

      Jim folgte mir und schloss die Tür, die Hände in die breiten Hüften gestemmt. Er erinnerte an eine Bulldogge, die auf einen Knochen hofft. »Sie haben ihn gelesen. Ist er wirklich so furchteinflößend, wie er rüberkommt?«

      »Dieser Mann ist der Hammer«, sagte ich im Brustton der Überzeugung. »Stellen Sie ihn ein.«

      Jim fiel die Kinnlade herunter, und er stotterte: »Diesen Kerl, der aussieht wie der Handlanger des Schurken in einem Horrorfilm?«

      War es wirklich so schlimm? Vielleicht hätte ich doch einen Blick riskieren sollen. »Jim, vertrauen Sie mir. Das ist der beeindruckendste Mensch, der mir in meinem ganzen Leben je begegnet ist. Sie würden es zutiefst bereuen, wenn Sie ihn nicht einstellen.«

      Jim kniff die dunkelbraunen Augen zusammen. Seine defensive Haltung lockerte sich, und er ließ die Schultern sinken. Die Aura meines Chefs leuchtete normalerweise schön gleichmäßig. Jetzt blitzten grüne und violette Wirbel im Weiß auf, Zeichen von neugierigem Interesse. »Was lesen Sie denn bei ihm?«

      »So einen gewaltigen Beschützerinstinkt habe ich überhaupt noch nie gesehen – es ist, als würde er ihn umgeben wie ein Magnetfeld. Ein unglaublich gutmütiger Typ. Einer, der kleine Kätzchen von Bäumen rettet, verstehen Sie? Er würde sich für einen wildfremden Menschen eine Kugel einfangen und das Ganze noch als positives Ergebnis für sich verbuchen. Bitte stellen Sie ihn ein.«

      Jim hatte in den zwanzig Jahren, die er dieses Unternehmen inzwischen leitete, schon so einige interessante Gestalten kommen und gehen sehen. Er hatte sogar mich eingestellt – einen der anstrengendsten Menschen, die man sich vorstellen kann. Und alles, was er an mir auszusetzen hatte, war, dass ich teuer war. Angeblich hatte er nur meinetwegen graue Haare bekommen – dabei war er schon grau gewesen, als wir uns kennengelernt hatten.

      Er antwortete nicht sofort. Mehrere Sekunden lang starrte er mich nachdenklich an, dann schien er sich entschieden zu haben. »Wenn ich ihn einstelle, wird er Ihr neuer Partner.«

      Ich zuckte überrascht zurück. »Moment mal, Jim, das ist …«

      »Haben Sie nicht gerade selbst gesagt, er ist einer der besten Menschen, die Ihnen je begegnet sind?«, erinnerte er mich mit zusammengekniffenen Augen.

      »Na ja, schon. Aber ist es nicht vielleicht ein bisschen viel verlangt, wenn er sich gleich auf mich einstellen muss? Außerdem ist er doch wegen des Kriminalberater-Jobs hier, oder?«

      »Er kommt ursprünglich von der Militärpolizei. Ich dachte, das würde ganz gut passen, weil Fort Campbell in der Nähe ist, und wir brauchen einen wie ihn. Was wir aber noch nötiger brauchen, Jon, ist