»Dr. Lechner legt nur bei dem neuen Patienten einen Zugang«, erklärte sie. »Er kommt jeden Moment!«
»Sie brauchen offenbar dringend Urlaub, Kollege. Tapetenwechsel! Luftveränderung! So kann das nicht weitergehen!«
»Ja, vielleicht sollte ich wirklich … Entschuldigen Sie bitte, Herr Professor.«
»Sie müssen sich bei mir doch nicht entschuldigen, Herr Cortinarius! Bitte denken Sie daran: Wir sind eine Familie! Wenn Sie ein offenes Ohr brauchen, bin ich für Sie da!«
Ludwig stürmte heran.
»Entschuldigung, aber ich musste noch schnell …«
»Schon klar, Ludwig. Schwester Maria hat uns bereit informiert. Was macht denn dein Patient mit der Leistenhernie?«
»Dem geht es wunderbar!«, strahlte der junge Operateur. »Ich denke, dass der Mann morgen nach Hause kann! – Geht es Ihnen wieder besser, Herr Oberarzt?«
»Wie – besser?«, fragte Cortinarius irritiert.
»Na! Ihren Kopfschmerzen? Vorhin? Aspirin, Sie erinnern sich?«
»Ach so … Ja, gut, danke.«
Nein, es ging Kilian Cortinarius nicht gut. Egidius merkte, dass er professionell und routiniert seine Pflicht erfüllte. Aber er war nicht ›mit dem Herzen‹ bei seiner Arbeit. Er erledigte seine Pflicht.
»So, ich brauche jetzt erst einmal einen Tee! Wie sieht es mit Ihnen aus, Herr Cortinarius? Leisten Sie mir Gesellschaft? Auch wenn Frau …«
Er machte eine winzige Pause.
»… Kreuzeder ihn nicht so professionell zubereitet, wie Sie es können?«
Cortinarius wehrte sich nicht. Er würde sogar von den Schokokeksen essen, die Frau Kreuzeder zum Tee servierte. Und er würde versuchen, Egidius die Geschichte zu erzählen. Ohne Bitterkeit. Ohne, wie sonst unter Ausschluss der Öffentlichkeit, Tränen zu vergießen.
*
Geweint hatte er wegen dieser Angelegenheit wahrlich genug. Als junger Assistenzarzt hatte er es geschafft, eine Stelle auf einer urologischen Abteilung zu bekommen. Er war unsicher. Mit diesem Fach hatte er sich nie wirklich beschäftigt. Sein Traum war es gewesen, Neurochirurg zu werden. Aber er hatte seine Eltern unbedingt entlasten, sein eigenes Geld verdienen wollen. Er hatte sich fast in jedem Krankenhaus für fast jede Stelle beworben. Der urologische Chefarzt gab ihm die Chance.
Er war ungeschickt und tollpatschig. Er versuchte, nett zu den Schwestern zu sein. Diese hatten das nicht honoriert. Deswegen war er bestrebt, sich durch zunehmend arrogantes Auftreten zu schützen. Eine der Schwestern war trotz allem besonders nett zu ihm. Sie flirtete mit ihm. Nahm ihn in Schutz, wenn die anderen giftige Bemerkungen machten. Sie war sein Halt, sein Anker. Er verliebte sich in sie. Irgendwann führte er sie groß zum Essen aus, in ein Restaurant, das weit über seinen Verhältnissen lag. Die Rechnung, die er zu begleichen hatte, war fast so hoch wie die Miete für seine kleine Ein-Zimmer-Wohnung. Er begleitete sie nach Hause. Danke für den schönen Abend, hatte sie gesagt, nachdem er ihr aus dem Taxi geholfen und sie zur Eingangstür begleitet hatte.
›Lass uns heiraten!‹, hatte er, verliebt bis dicht an den Wahnsinn heran, hervorgestoßen.
Sie allerdings wurde verlegen. Und gestand ihm, dass alles nicht echt gewesen war. Es hatte sich um eine Wette gehandelt. Sie hatte gewettet, dass sie ihn ›knacken‹ würde. Ihn, die harte, arrogante Nuss, um ihm das Herz zu brechen. Und es täte ihr leid, im Nachhinein. So schlimm sei er ja gar nicht. Im Gegenteil. Eigentlich sogar ganz süß.
Er stand da, bewegungsunfähig. Wie angewurzelt. Schwarz wurde es ihm vor den Augen. Das Atmen fiel ihm schwer. Warum konnte der Boden sich nicht unter ihm auftun und ihn verschlingen? Jetzt bloß nicht umfallen. Nicht ohnmächtig werden, und nicht losheulen.
Er hatte sich kurz verneigt und war fortgegangen. Sie hatte mehrmals seinen Namen gerufen. Aber er drehte sich nicht um.
Er hatte versucht, sich zu betäuben. Alkohol und Neuroleptika. Antidepressiva. Tramadol. Irgendwann hatte er einem Karzinompatienten die Medikation gestohlen. Morphium, Antidepressiva.
So war er an die Betäubungsmittel geraten, die ihm diese himmlische Gleichgültigkeit verliehen, dem unverschämten Grinsen der Schwestern gegenüber. Dem Getuschel. Dem Gelächter hinter Türen, das sofort erstarb, sobald er den Raum betrat. Diese Ampullen, diese Tabletten halfen ihm über den Tag. Damit überstand er seinen Dienst.
*
»Mensch, Cortinarius! Ich hatte ja keine Ahnung! Warum haben Sie sich mir nicht schon viel eher anvertraut? Das wirft ja noch mal ein völlig anderes Licht auf ihre Verfehlungen von damals!«
»Ich habe nicht auf Ihr Mitleid spekulieren wollen, Herr Professor. Darauf hofft jeder Drogenabhängige und verleitet damit seine Umgebung zur Ko-Abhängigkeit. Sie haben ja auch so gemerkt, dass ich kein schlechter Mensch bin. Das hat mir mehr bedeutet, als jede Sympathie.«
»Ich verstehe, was Sie meinen. Aber ich habe Sie unterbrochen. Bitte, erzählen Sie weiter!«
*
»Ja, ich habe dann geheiratet. Die erste Beste, die mich wollte. Wir bekamen ein Kind. Ein zauberhaftes kleines Mädchen. Ich habe mich so bemüht, ein guter Ehemann und Vater zu sein. Ich versuchte sogar, meinen Drogenkonsum aufzugeben. Das klappte nicht. Dann bemühte ich mich darum, den Verbrauch zu reduzieren, aber das ging nur mit Cannabis und Alkohol. Die Anforderungen der Klinik stiegen, während das Mobbing gegen mich unvermindert weiterging.
Es gelang mir, eine Stelle an der Universitätsklinik zu bekommen. Dort wurde ich zwar nicht mehr gemobbt, kam aber kaum noch nach Hause, weil mein Chefarzt mich ins urologische Forschungslabor versetzte, eine Untersuchung über den Nachweis von antigen-beladenen Tumorzellen der Blasenschleimhaut. Und wenn ich nicht dort war, musste ich als Infektionsbeauftragter in der Mikrobiologie Bakterienkulturen ablesen. Zusätzlich zu meiner Arbeit auf Station und im OP, natürlich. Nach Hause kam ich nur noch zum Umziehen und Schlafen.
Als mein Töchterchen vier war, ließ meine Frau sich scheiden. Sie hatte die Nase voll von mir. Ich habe es sogar verstanden. Allerdings setzte sie mit ihrer Anwältin durch, dass ich mein Kind nicht sehen durfte, ich war ja drogen- und alkoholabhängig, war also ein schlechter, verantwortungsloser Vater. Sie hat das Kind gegen mich aufgehetzt. Meine Geschenke und Briefe erhielt ich postwendend zurück!«
»Haben Sie Unterhalt gezahlt?«
»Selbstverständlich. Ich zahle immer noch. Und ich schreibe immer noch. Und jetzt hat mein Kind, die inzwischen fast acht Jahre alt ist, mir erstmals zurückgeschrieben!«
Mit zitternden Händen zog Cortinarius einen Umschlag aus seiner Kitteltasche, einen pastellblauen Umschlag, auf dem mit einem Füllfederhalter jemand seinen Namen und seine Adresse geschrieben hatte, in altmodischer, kindlich anmutender Schreibschrift, nicht in Druckbuchstaben. Er zog aus dem Kuvert ein Blatt Papier, das der Farbe des Umschlags entsprach. Wortlos streckte er den Bogen seinem Chef entgegen.
Egidius las, was das Kind seinem Vater geschrieben hatte. Hass und Verachtung mit jeder Silbe. Was mochte die Mutter dem Kind von seinem Vater erzählt haben? Wie viel Gift, wie viel Bosheit?
Er gab dem Empfänger den Brief zurück.
»Ich beginne, Ihr Leben zu verstehen, Herr Cortinarius«, sagte er. »Respekt, dass Sie sich trotz allem zu einem so glänzenden Operateur und hervorragenden Mediziner entwickelt haben! – Wissen Sie, ich finde das immer schlimm, wenn zwei Menschen, die gelobt haben, ihr Leben miteinander teilen zu wollen und sich zu lieben und zu ehren, sich entzweien und nur noch Hass füreinander empfinden. Aber das ist eben manchmal so.
Völlig unerträglich finde ich es, wenn Erwachsene in diesen Streit Kinder mit hineinziehen. Sie werden ihr Leben lang der Vater Ihres Kindes bleiben, genau wie die Mutter für immer die Mutter sein wird. Ein Kind hat Anspruch auf beide Eltern. Mein Rat an Sie: Bleiben Sie der Vater Ihrer Tochter. Irgendwann wird sie Sie brauchen. Schauen