Einer versuchte es trotzdem bei mir. Ein hübscher junger Bursche, mit wilden, blonden Locken und Augen in einem Blau, das du dir nicht vorstellen kannst, und wenn du es noch so sehr versuchst. Wir hatten uns auf einem Dorffest kennengelernt. In Bruchteilen von Sekunden war ich verliebt, und ihm erging es nicht anders. Wir hatten nur noch Augen für einander. Er war stark, breitschultrig, zuverlässig. Wenn er lachte, leuchtete er. Wir tanzten einen Dreher miteinander!«
»Einen Dreher?«
»Ein Volkstanz. Wir sahen wunderbar aus, er in seinen Lederhosen, ich in meinem Dirndl. Die Leute applaudierten uns sogar. Irgendwann stellte er mich seinen Eltern vor. Großbauern in Josefstal waren die. Sie waren höflich zu mir. Aber sie verboten ihm den Umgang mit mir. Für ihn war eine Bauerstochter aus der Nachbarschaft vorgesehen, nicht eine kleine Krankenschwester, die keinen Grundbesitz hatte, und die außer dem Willen, ihrem Sohn eine gute Frau zu sein, nichts in die Ehe mitbrachte.
Ich habe gekämpft. Aber gegen seine Mutter konnte ich nur verlieren. Ich weiß, dass ihm der Brief, in dem er mich bat, von ihm abzulassen, von ihr diktiert worden war. Dass er ihn weinend schrieb, weiß ich, weil an einigen Stellen seine Tränen die Tinte verwischten.
Für mich brach eine Welt zusammen. Aber auch für ihn.«
»Hat er die andere geheiratet?«
Schwester Stefanies Augen glänzten verräterisch.
»Eine Woche, nachdem ich Lorenz’ Brief erhalten hatte, fand man ihn am Spitzingsee. Er hatte das Jagdgewehr seines Vaters entwendet und seinem Leben ein Ende gesetzt.«
Sie musste eine Pause machen, in der sie Gelegenheit hatte, sich wieder zu fangen.
»Immerhin hat er mir die Treue gehalten, nicht wahr? Auf eine entsetzliche Art allerdings. Sein Vater starb vor Gram, einzig seine Mutter wurde steinalt und musste lange an ihrer Schuld tragen. Rate mal, wer sie bis zu ihrem Ende pflegte?«
»War sie bei Ihnen im Dorotheenstift?«
»Ganz genau. Aber wenn du glaubst, dass sie auch nur ein einziges Wort in meine Richtung gesagt hatte, ein Wort, auf Grund dessen ich sie hätte verstehen, ihr hätte vergeben können, täuschst du dich. Sie war ein bitterböses, reiches, altes Weib. Ihr Vermögen fiel an die Kirche, weil es niemanden mehr gab, dem sie es sonst hätte vererben können.«
»Sie haben Ihrem Lorenz auch die Treue gehalten«, stellte der Junge sachlich fest.
»Es blieb mir nichts anderes übrig«, lächelte Schwester Stefanie bitter. »Es gab keinen, der ihm auch nur im Entferntesten das Wasser hätte reichen können. Weißt du, Lukas, wenn man einmal dem Besten gegenüberstand, zum Greifen nah, dann will man sich mit dem Zweitbesten nicht mehr zufrieden geben. Und: Man vergleicht. Natürlich zieht der Andere gegenüber dem Einen immer den Kürzeren. Der Eine, den es nicht mehr gibt, hat ja auch den ungerechten Vorteil, dass er nichts mehr falsch machen kann. Er steht inmitten einer Gloriole auf seinem Podest, wie ein Heiliger. Gegen ihn kann jeder Andere nur verlieren.«
»Das ist eine traurige Geschichte«, befand der Junge.
»Es ist eine Geschichte, die einen wütend machen kann«, korrigierte sanft die Schwester. »Es ist eine Geschichte von Verschwendung und Dummheit. Verschwendung von Leben, von Jugend, von Schönheit, von Träumen und Hoffnungen. Dummheit durch Vorurteile, Gier, mangelnde Empathie. Mein Leben schwankte zwischen Wut und Tränen. Das hat mich hart, bitter und bösartig gemacht. Du bist der Erste, der dies nie zur Kenntnis zu nehmen schien. Zu dir konnte ich jede Bosheit sagen – du interpretiertest sie als Belehrung, die du sogar noch dankbar entgegennahmst. Du hast ein reines Herz. Bewahre es dir. Es ist dein größter Schatz.«
Kinder fallen nicht vom Himmel
»Verflixt und zugenäht!«
»Was hat dich zu diesem extravaganten Ausbruch verleitet?«
»Beschäftigt dich das nicht? Ich habe ehrlich in den letzten Tagen kaum einen anderen Gedanken fassen können – mit Ausnahme der Frage, ob die wunderbare Meißener Porzellan-Schale in der Vitrine oder auf dem Esstisch den besseren Eindruck macht.«
»Vitrine, ganz klar. Stell’ dir vor, du schlägst sie beim Abwaschen gegen den Wasserhahn, und plötzlich ist ein Chip aus dem Goldrand herausgeschlagen!«
»Ja und? Die Dinge sind nicht für die Ewigkeit gemacht. Ich will es benutzen und mich daran erfreuen. Ich bin ja kein Museum. Ich lebe.«
»Du hast recht«, sagte Philipp nach kurzer Überlegung. »Gerade die schönen Dinge sind zum Benutzen da. – Aber ich glaube, wir sind von deinem Thema abgekommen. Es geht um K-I-N-D-E-R«, buchstabierte er zwinkernd.
Hannes runzelte die Stirn. »Hallo?«, rief er. »Ich habe Asperger, ich bin nicht taub! Glaubt ihr, dass ich aus sechs Buchstaben kein Wort zusammensetzen kann?«
»Was denkst du denn darüber?«
»Das ist doch dann das Kind von der dicken und der türkischen Frau, oder?«
»Hannes, die dicke Frau ist keine dicke Frau, sondern eine Frau, und die türkische Frau ist auch nur türkischer Abstammung, und eine weitere Frau. Die Adjektive sind da überflüssig«, erklärte Philipp unwirsch.
»Das ist dann aber doch das Kind der beiden Frauen!«, korrigierte sich Hannes. »Oder lebt der dann auch bei uns?«
»Wieso denken alle, dass es ein Junge wird? – Nein, er lebt – also, es lebt dann bei Hatice und Veronika. Und wir als Väter spielen keine Rolle.«
»Ich meine … Vielleicht dürfen wir das Kind mal besuchen?«, fragte Chris. »Das kann man uns doch wohl kaum verwehren, oder?«
»Ich bin sicher, dass wir einen Vertrag abschließen werden, in dem das festgelegt wird.«
Hannes seufzte. »Schade«, sagte er resigniert.
»Was – schade?«, empörte sich Chris. »Was denkst du denn von uns? Du weißt doch, wie lieb wir dich haben, oder? Glaubst du im Ernst, dass da irgendein Kind etwas dran ändern kann?«
»Ja.« Die Antwort des Jungen knallte wie ein Peitschenhieb im Raum.
»Warum glaubst du das?«, erkundigte sich Philipp.
»Weil ich nicht wirklich euer Kind bin. Aber das Kind der beiden Frauen… Das wäre dann euer Kind. Ein echtes Kind.«
»Ich habe dir schon mal gesagt, dass du deswegen so wichtig bist, weil wir dich nicht einfach so bekommen haben. Wir haben dich ausgesucht. Wir wollten dich unbedingt und haben uns deswegen sogar mit deiner Mama verkracht. Deinen Platz kann niemand einnehmen. Du wirst immer unser Junge bleiben.«
»Na gut.« Hannes rang sich gerade noch zu dieser drögen Antwort durch. Das Thema war damit für ihn erledigt.
*
»Nett, dass Sie sich noch mal gemeldet haben«, begrüßte Hatice die beiden attraktiven Herren und winkte sie herein. »Die schönen Blumen! Und auch noch Tulpen, wie konnten Sie das wissen! Vielen Dank! Veronika, kommst du mal? Ich muss rasch diesen hinreißenden Strauß hier versorgen!«
Die Gerufene erschien Augenblicke später und begrüßte ihre Gäste.
»Das war ja ein dolles Ding, neulich, bei meiner Schwiegermutter, oder?«, kicherte sie. »Ayse ist ein Goldstück. Wirklich. Sie denkt sehr geradeaus und sehr zielorientiert. Wenn ich es nicht angehe, tut es keiner, denkt sie vermutlich. Dabei steht meine Frau doch gar nicht unter Druck. Ich glaube, ab 32 sprechen die Frauenärzte von ›alter Erstgebärender‹. Ein widerwärtiger, diskriminierender Ausdruck. Allerdings hat er medizinisch seine Berechtigung, oder?«
»Ja, genau«, stimmte der Doktor zu. »Das ist das Ergebnis von Forschung und Statistik. Keine Abgabe frauenfeindlicher Erklärungen!«