»Gute Idee, wirklich, Schwester. Ich werde mich trotzdem bemühen, es so hübsch wie möglich zu machen, dann kann ich gleich sehen, was ich mir zutrauen darf!«
Man merkte Timon an, dass er wieder voll in seinem Element angekommen war. Er untersuchte mit Händen und Ultraschall, horchte ab, sprach mit den Patienten. Er verabreichte Spritzen, legte Infusionen und Verbände an und nähte. Von Patient zu Patient wuchs seine Sicherheit.
»Man sollte nicht glauben, dass du vor nicht allzu langer Zeit zu Dreivierteln tot in deinem Bett gelegen und dich selbst bemitleidet hast«, staunte Dagmar. »Daran sieht man: Je früher die Behandlung einsetzt, umso besser sind die Chancen, dass alles wieder gut wird! – So, mein Lieber: In drei Minuten sind deine zwei Stunden um! Trink noch einen Kaffee, und dann ziehst du dir die Fluchthosen an und kommst erst morgen wieder!«
»Du bist sicher, dass ich nicht noch länger bleiben soll? Ich fühle mich wirklich gut, weißt du? Und vor allem … Es wartet ja niemand auf mich, außer Emmerich!«
»Aber das ist doch schon sehr schön. Emmerich ist wirklich einer der kompetentesten Physiotherapeuten, die ich je kennengelernt habe! Der hat eine alte Dame mit einer operierten Schulter bei Zustand nach Sturz so gut mobilisiert, dass sie wieder völlig normale Beweglichkeit erreicht hat. Und er ist sehr, sehr nett mit den Patienten. Auf so eine ehrliche Weise, weißt du? Nicht dieses professionelle Rumgeschleime. Ganz natürlich und freundlich.«
»Das stimmt wirklich. So ist er. – Na gut, wenn du sagst, dass ich gehen soll, dann breche ich jetzt auf!«
Dagmar erhob sich kurz und drückte den jungen Doktor an sich.
»Schön, dass du wieder da bist. Egal, was jetzt auf dich zukommt: Bei uns bist du gut aufgehoben.«
*
Ludwig erschien pünktlich um 20 Uhr zur Dienstübergabe.
»Und? Hat Timon alles hinbekommen?«, erkundigte er sich bei Dagmar.
»Einhundert Prozent. Echt! Wir mussten ihn fast hinausprügeln, als die zwei Stunden um waren! Ich verstehe das aber auch. Hier ist er von seinen privaten Problemen weit entfernt und abgelenkt. Ich verstehe die Frau nicht, wirklich. Ich würde um ihn kämpfen, an ihrer Stelle.«
»Ich glaube, sie hat einfach Angst, dass ihr wieder ein Mann in die Quere kommt«, behauptete Ludwig. »Das ist aber auch wirklich ein Problem, wenn man die Fähigkeit hat, mehr als einen Menschen zu lieben!«
»Es ist bestimmt schwierig. Aber ich glaube, dass er es wert ist, es trotzdem zu versuchen. Wenn ich an die Generation unserer Eltern und Großeltern denke … Gewiss, es gab auch Treue. Aber es gab eben auch Treuebrüche. Und was haben die Frauen gemacht? Sie haben es ertragen, aus mannigfaltigen Gründen. Wegen des Hauses oder Hofs, beispielsweise. Wegen der Kinder oder des Vermögens. Man warf Beziehungen wegen eines Fehltritts nicht einfach weg. Heute wechselt man die Partner mit einem Achselzucken. ›Wir haben uns auseinandergelebt‹, sagt man dann. Und sucht sich den Nächsten!«
»Ja, aber Timon ist doch mit einem Mann …«
»Ja und? Macht das einen Unterschied?«, fragte Dagmar. »Untreue ist Untreue. Ich hoffe, dass hier das letzte Wort noch nicht gesprochen ist. Es muss nicht immer um Rache und Vergeltung gehen. Man kann auch vergeben, weißt du? – So, mein Lieber! Ich ziehe mich dann mal graziös zurück. Ruhigen Dienst! Vielleicht kommst du mal ein wenig zum Schlafen!«
»Herr Doktor, die Arbeit ruft! Eine aparte junge Dame, die sich mit kochendem Wasser verbrüht hat!« Der Pfleger hielt Ludwig den hellbraunen Pappdeckel hin. In der Ambulanz hatte man, im Gegensatz zu den Stationen, noch nicht auf Computer umgestellt. ›Radnitz, Dorit‹, stand in großen Lettern auf dem Deckel. Zudem klebten einige Adrema-Sticker darauf, ein Beleg dafür, dass die junge Frau häufiger in der Ambulanz behandelt worden war.
»Die schon wieder!«, ächzte Ludwig. Warum geht sie eigentlich nicht zu den niedergelassenen Ärzten?«
»Bestimmt wegen der Wartezeiten. Naja, und jetzt haben die Praxen ja auch schon geschlossen!«
»Ich schau sie mir an! Um so eher ist sie wieder verschwunden!« Ludwig klang eher genervt.
»So sieht man sich wieder, Herr Doktor!«, strahlte die junge Frau den Diensthabenden an. »Da fühle ich mich ja gleich schon viel besser!«
»Was hat Sie denn diesmal hergeführt, Frau Radnitz?«, erkundigte sich Ludwig, bemüht, seiner Stimme einen leicht genervten Unterton zu verleihen.
»Ich bin ja so ungeschickt, Herr Dr. Lechner! Ich wollte mir einen Tee zubereiten, und habe mir das kochende Wasser über die Hand gegossen!«
Ludwig ergriff ihre Rechte.
»Also ich sehe da nichts!«
»Oh, ich glaube, es war die andere!«
»›Ich glaube?‹ Haben sie denn keine Schmerzen?«
»Ich habe die Hand sofort mit kaltem Wasser und Eiswürfeln gekühlt, danach ist es besser geworden!«
Tatsächlich waren beide Hände völlig unauffällig. Selbst als Ludwig sie kräftig drückte, verzog Frau Radnitz keine Miene.
»Was unternehmen wir denn nun, Herr Doktor?« Dorit Radnitz sah ihren Behandler erwartungsvoll und etwas kokett an.
»Ich denke, da bei Ihnen keine Verbrennungszeichen nachzuweisen sind, verzichten wir auf medizinische Notfallversorgung.«
»Aber Sie können mich doch so nicht gehen lassen! Wollen Sie mich nicht zur Beobachtung aufnehmen?«
»Das erscheint mir nicht sinnvoll, Frau Radnitz. Ich brauche die Betten für echte Notfälle!«
»Ich bin ein echter Notfall! Entschuldigen Sie, dass ich nicht blute und noch atme!«
»Geht in Ordnung, Frau Radnitz. Bitte verlassen Sie jetzt das Haus!«
*
Im Prozess sagte der nachtdiensthabende Pfleger später aus, er hättee aus dem Behandlungsraum 2 die Schreie einer Frau gehört, ein Poltern, als ob ein Infusionsständer umfallen würde. Er wäre dorthin gelaufen und hätte die verschlossene Tür geöffnet. Die Patientin hätte Kratzwunden am Oberkörper und an den Unterarmen gehabt, eine Prellmarke am Kopf, die Bluse wäre aufgerissen, der Rock hochgeschoben gewesen. Sie hätte auf dem Boden gelegen. Dr. Lechner hätte sich in dem Moment, als er hereinkam, über sie gebeugt. Er hätte Kratzspuren in Gesicht und auf den Handrücken erlitten. Die Patientin hätte ihn um Hilfe angefleht und ihm gegenüber geäußert, dass der Arzt versucht hätte, ihr Gewalt anzutun.
*
»Es war klug von dir, Ludwig, selbst die Polizei anzurufen«, lobte Egidius seinen Mitarbeiter. »Und es war ebenso klug, den diensthabenden Gynäkologen zur Beweissicherung dazu zu rufen. Für mich steht natürlich außer Zweifel, dass die Anschuldigungen der jungen Frau aus der Luft gegriffen sind. Trotzdem halte ich es für sinnvoll, sich korrekt zu verhalten. Bis die Angelegenheit geklärt ist, bist du beurlaubt.«
»Aber …«
»Nichts aber. Das ist das übliche Procedere in einem solchen Fall. Wer ist eigentlich für den Dienstplan verantwortlich? Das ist ein organisatorischer Fehler, meine Damen und Herren! Im Nachtdienst dürfen bitte nie wieder ein Arzt und ein Pfleger zusammenarbeiten. Und im Raum darf der Arzt nie alleingelassen werden. Es haben sich dort immer zwei Personen aufzuhalten!«
Ludwig schlich niedergeschlagen über die Flure. Er allein wusste, was passiert war – nämlich gar nichts. Frau Radnitz war zunächst nur deutlich geworden, in der Vermittlung von dem, was sie sich von Ludwig wünschte. Als er sie zurückwies, begann sie, sich die Bluse aufzureißen, kratzte sich, und schlug mit dem Kopf an den Verbandswagen. Als Ludwig versuchte, sie davon abzuhalten, begann sie, zu schreien und zu strampeln, wobei der Infusionsständer zu Boden ging und sie dem Arzt Kratzspuren zufügte.
Nachdem die Situation durch den Pfleger geklärt war, hatte Ludwig die Polizei angerufen.