»Meine Urgroßmutter hat die feuchte Luft in Rubbia nicht gut vertragen. Sie war immer wieder krank. Der Leonard kannte Grado. Er hat gewusst, dass Kinder und auch Erwachsene, die etwas an der Lunge hatten, nach Besuchen in Grado wie aufgeblüht waren. Also hat er noch einmal einen Ausflug dorthin gemacht und sofort beschlossen, sich hier niederzulassen«, erzählt Marie Therese Rossetti. Grado hatte sich damals tatsächlich schon einen Ruf als Heilstätte erworben, war vom Kaiser zum Kur- und Seebad geadelt worden. Nur was Pensionen und Hotels betrifft, sah es unmittelbar vor der Jahrhundertwende noch dürftig aus. Es gab neben kleineren Häusern gerade einmal die Hotels Post und Fonzari, die den Namen Hotel wirklich verdienten. Also beschloss der Baron: Hier muss eine Pension, ein Hotel her. Villen, deren Zimmer an Besucher vermietet werden. Und zwar fünf Stück, je eine Villa für eines seiner inzwischen fünf Kinder (Sohn Carl war mit nur sechs Jahren gestorben). Der Baugrund war mithilfe der Brüder Marchesini, die zu der Zeit den Bürgermeister stellten und auch sonst in Grado die Fäden zogen, schnell gefunden, erworben und – weil Lagune – aufgeschüttet. Leonard Bianchi hatte die Pläne für die Villen bereits selbst entworfen. Im Jahr 1900 nahm die Baufirma Minussi die Arbeit für die »camere con giardino« auf, die später so beworbenen Zimmer mit Garten. Wobei man sich vergegenwärtigen muss, dass alles Material für die Aufschüttung und den Bau mit Booten über die Kanäle durch sumpfiges Gelände aus Aquileia herangeschafft werden musste. Den Damm, der das Festland mit Grado verbindet, gab es ja noch lange nicht. In unvorstellbaren kaum zwei Jahren Bauzeit entstanden die Villa Spiaggia und die Villa Marina direkt am Strand sowie dahinter die Villen Adria und Onda sowie das Haupthaus Stella Maris. Die Ville Bianchi in der Via ai Bagni 429 bis 433 verfügten 1901, im Jahr ihrer Eröffnung, über 85 Zimmer und zehn Wohnungen mit Küche.
Blick vom Dach der Bianchi-Villen zur Altstadt – heute ist die Fläche dazwischen dicht verbaut, ebenso die Lagune rechts.
Die Villen wurden umgehend ein großer Erfolg: Die Gäste kamen in Scharen, oft mit Köchin, Kammerdiener und Kindermädchen sowie Gepäck für den ganzen Sommer. Und da der Chef des Hauses ein Baron war, mietete sich besonders gerne die aristokratische Welt in den Ville Bianchi ein. Leonard Bianchi war zum Pionier der altösterreichischen Villen in Grado geworden. Einen Ruf als Finanzier und Wohltäter Grados hatte er ohnehin schon: Als am 4. April 1900 mitten in Grado Trinkwasser gefunden wurde, finanzierte der Baron Bianchi den ersten Brunnen. Und auch das erste Hospiz ein Vierteljahrhundert zuvor, ebenso wie das neu errichtete, verdankte Grado dem Geldgeber Bianchi. Zu seinen Ehren wurde später eine Straße in dem Seebad nach ihm benannt. Die Gradeser waren zwar gespalten hinsichtlich Fluch und Segen der neuen Besucherströme sowie der Villen- und Hotelerbauer. Aber Leonard Bianchi hatte einen tadellosen Ruf.
Nur aus der Idee »eine Villa für jedes Kind« wurde dann nichts – die Bianchi-»Kinder« waren zum Zeitpunkt der Entstehung der Bianchi-Villen großteils schon erwachsen. Im Jänner 1912 starb der Baron mit nur 66 Jahren in seinem Schloss in Rubbia überraschend an den Folgen einer Lungen- und Rippenfellentzündung. Die Kinder lebten schon längst ihr eigenes Leben: Ein Sohn wanderte als Ingenieur nach Brasilien aus, einer (der Großvater der Rossetti) ging nach Innsbruck und gründete die Bergrettung, eine Tochter war auswärts verheiratet – blieben nur die Schwestern Louise und Marie, »Lo« und »Mitzi«. Sie führten den Pensionsbetrieb nach der Erkrankung und dem Tod des Vaters zwar weiter, hatten aber wenig Lust, das für immer zu tun – so liest es sich zumindest in den Briefen der Bianchi-Konkurrentin Emma Auchentaller. Die Wiener Unternehmerstochter hatte kurz nach Entstehung der Ville Bianchi die inzwischen renommierte Pension Fortino errichten lassen. In dem von der Friaul-Autorin Christine Casapicola zusammengestellten Buch Briefe aus Grado heißt es in einem Brief Emma Auchentallers vom November 1912: »Bitte sagt Elsa, dass die Ville Bianchi zu verkaufen sind … Baroness Luise sagte mir schon im Sommer, es sei furchtbar anstrengend für sie, sie kam jede Woche aus Rubbia für einen Tag. Nun wollen sie die Villen für 500 000 Kronen verkaufen. Das ist sehr preiswert, sie haben circa 100 Zimmer, liegen sehr schön, sind gut erhalten und möbliert. Haben den besten Ruf.«
Für Marie Therese Rossetti ist das Unfug. Die Schwestern hatten von Beginn an mit dem Vater zusammen den Betrieb geführt. Dass nach seinem Tod Verkaufsgerüchte lanciert wurden, habe auch mit dem Konkurrenzverhältnis im rasant aufblühenden Grado zu tun. »Emma Auchentaller war nicht auf gutem Fuß mit den Tanten. Sie wollte alleine in Grado herrschen.« Louise und Marie übernahmen jedenfalls das Erbe. Sie beteiligten die übrigen Geschwister am Gewinn oder zahlten sie später aus. Der Fortbestand der Bianchi- Villen in Bianchi-Händen war gesichert.
Wie waren die beiden Schwestern? »Die Mitzi war eine große Reiterin. Sie ist dann einmal gestürzt und ein Leben lang gehinkt. Die Tante Lo war fast zwei Meter groß und ist dann buckelig geworden. Viele haben gesagt, sie waren harte Frauen, weil sie so viel durchgestanden haben. Aber sie waren herzensgute Leut’, haben geholfen, wo sie konnten«, weiß die Großnichte aus Erzählungen und aus Eigenem. »Wir Kinder haben natürlich einen großen Respekt vor ihnen gehabt. Obwohl wir die Tante Lo den Alpenfloh und die Tante Mitzi den Butterstizzi, von Butterstriezel, genannt haben.«
Die vier älteren Damen, die wir im vorigen Kapitel im Lesezimmer der Ville Bianchi getroffen haben, haben ein bisschen weniger Respekt: »Die Lo und die Mitzi haben hier alles übernommen und waren sehr tüchtig und sehr sparsam – und vom Typ her die alten Jungfrauen. Sie waren auch nicht besonders hübsch, alle beide, von mondän keine Rede.« Dabei, so erzählt Gräfin Rossetti, habe die Mitzi viele Verehrer gehabt. Nur der Vater habe immer Nein gesagt. Keiner sei ihm gut genug gewesen – wie das damals halt so war. »So blieb die Tante Mitzi einem treu, einem Offizier, in den sie sehr verliebt war …«
Louise Bianchi mit Nichte Leonie vor der Badeanstalt, im Hintergrund die Villen (1910)
Viel durchstehen mussten die beiden Schwestern schon bald nach dem Tod des Vaters und der Übernahme der Villen – die damals, dank dem Boom des Seebades, von Mai bis September ständig ausgebucht waren. 5500 Gäste hatte Grado noch im Jahr 1904 zu verzeichnen, rund 13 500 waren es 1912, mehr als 18 000 im Jahr 1913. Und 1914 zählte Grado allein bis zum Kriegsbeginn Ende Juli bereits 14 200 Gäste. Dann war Schluss mit dem Boom. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, verließen die Gäste, die in den Wochen davor in großer Sorge die sich verdüsternden Nachrichten in den Gazetten verfolgt hatten, Grado fluchtartig. Obwohl Italien bei Ausbruch des Krieges zunächst neutral blieb (weshalb der Kurbetrieb später, wenn auch auf Sparflamme, doch noch weiterging). Italien akzeptierte nämlich die Expansionspläne Österreich- Ungarns auf dem Balkan, forderte als Ausgleich aber die Abtretung der italienischsprachigen Gebiete des südlichen Tirols und einiger Gebiete im Friaul. Erst als Kaiser Franz Joseph kein Entgegenkommen zeigte, trat Italien im Jänner 1915 auf Seiten der Gegner der Donaumonarchie in den Krieg ein – wofür ihm unter anderem das österreichische Küstenland an der oberen Adria in Aussicht gestellt wurde. Das veränderte auch das Leben der Bianchi-Schwestern grundlegend. Louise und Marie wurden Rotkreuzschwestern an der Isonzo-Front. Sie halfen, wo sie helfen konnten, und wurden dafür während des Krieges und danach mit österreichischen Medaillen hochdekoriert. Dabei waren sie mit einem Gedanken immer in Grado: »Von unserem Verbandsplatz in den Julischen Alpen aus konnten wir mit dem Feldstecher nach Grado