Vorbei war es mit den Österreichern aber nur in politischer Hinsicht. Denn sie kamen wieder, und jenen, die in Grado Besitz hatten, wurde dieser nach und nach zurückerstattet. Schon zu Beginn der 1920er-Jahre kehrten auch die Touristen nach Grado zurück: 2500 waren es im Jahr 1921, schon 5000 im Jahr darauf. Auch Louise und Marie Bianchi kamen wieder. Das Familienschloss in Rubbia war im Krieg zerstört worden, die beiden Schwestern hatten ihr Zuhause verloren. Nun wurde das große Eckzimmer im ersten Stock der Villa Stella Maris mit Blick zum Meer ihr endgültiges Zuhause. Nicht mehr, wie vor dem Krieg, nur in der Saison von Mai bis September, sondern das ganze Jahr über. Fast zehn Jahre nach dem Tod des Vaters durften die Baroninnen erleben, wie sich Europa nach dem Jahrhundert-Krieg wieder aufrichtete und wie Grado, wenn auch unter anderer Nationalität, wiedererwachte. Damit zogen auch die Ville Bianchi wieder Gäste an, zumeist Stammkunden aus den Jahren vor dem Krieg. »Viele sind wiedergekommen, die vorher auch schon Gäste waren, vor allem aus Österreich und Bayern«, weiß Frau Rossetti aus den Aufzeichnungen.
In den Villen musste viel renoviert werden. Sie hatten durch Einquartierungen während des Krieges ordentlich Schaden genommen. Möbel waren »verschwunden« und mussten wieder zusammengesucht werden. Manchmal gelang das auch, weil noch der Eigentumszettel der Ville Bianchi darauf klebte und die neuen »Besitzer« die Beutestücke wieder herausrückten. Außerdem erhielt Louise nebst der Lizenz für die Fremdenbeherbergung 1922 auch jene für den Pensions- und Restaurationsbetrieb. Sprich: Die Ville Bianchi wurden in eine Pension mit Küche umgewandelt. Die Köchin hatten die Schwestern praktischerweise gleich aus dem Schloss Rubbia mitgebracht. Es gab fortan Frühstück, Mittag- und Abendessen. Marie und Louise Bianchi, die, stets in Schwarz gekleidet, schnell wieder zum Stadtbild Grados gehörten, die eine leicht hinkend, die andere groß und bucklig, teilten sich die Hoteliersaufgaben. »Die Tante Mitzi, die auch in Oxford studiert hatte, leitete die finanziellen Dinge. Die Louise war mehr für das Praktische zuständig. Sie hat auch in der Versammlung der Gradeser Hoteliers das Wort geführt«, sagt Frau Rossetti. Zu Emma Auchentaller, der Gründerin des Hotels Fortino, hatten die Schwestern zu der Zeit zwangsläufig einen engen Kontakt: »Die Frau vom Josef Maria Auchentaller hat ja in Grado eine Wäscherei aufgemacht für all die Wäsche, die in so einem Hotelbetrieb anfällt. Da haben natürlich auch die Tanten davon profitiert.«
Die zweite Blütezeit Grados und seiner Villen sollte 1936 einen Höhepunkt erreichen, als die Lagunenstraße von Belvedere auf die Insel und die Drehbrücke eröffnet wurden. Mit einem Schlag war die mühsame Anreise der vergangenen Jahrzehnte mit Eisenbahn und Boot Geschichte. Die Blütezeit war drei Jahre später mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges aber auch schon wieder vorbei. Im Krieg wurden die Villen neuerlich vom Militär requiriert, zunächst von den Italienern. Es folgte die deutsche Wehrmacht. Als Ende Juni 1944 die ersten Bomben auf Grado fielen, wurden die beiden Villen Adria und Marina getroffen und schwer beschädigt. Nach dem Abzug der Deutschen kamen die Engländer in die Villen und schließlich etwa 70 Flüchtlinge aus dem von Jugoslawien besetzten Istrien.
Aber auch aus dieser tragischen Zeit erstand das Seebad Grado wieder – und die Villen mit ihm. »Die Tante Louise ist Italienerin geworden, sonst hätte sie die Lizenz für die Villen nicht bekommen«, berichtet Frau Rossetti. Die Großtanten machten sich erneut auf den Weg, Möbel, die mit den verschiedenen Villenbesatzern »Füße bekommen« hatten, und Bettwäsche zu suchen – und das meiste wiederzufinden. Nur wenn die Wäsche mit dem Villen-Monogramm vor irgendeinem Gradeser Haus hing, wollten sich Louise und Mitzi nicht mit den Gradesern anlegen.
Und: »Nach dem Krieg kam mein Vater Karl aus Innsbruck herunter«, erzählt Marie Therese di Rossetti. »Mein Großvater hatte ihm gesagt: ›Du musst den Tanten helfen, das wird einmal dir gehören.‹ 1948 kamen wir hierher, mein Papa, meine Schwester und ich. Ein Jahr haben wir zunächst ganz hier gelebt, ich war gerade einmal zwei. Und so haben Alpenfloh und Butterstizzi und mein Vater die Ville Bianchi wiederaufgebaut.«
Das ist der Zeitpunkt, an dem ein weiterer Bianchi-Nachfahre vor den Vorhang muss: Federico Bianchi, genannt »Fri«, Bruder der Marie Therese Rossetti und 1949 in Grado zur Welt gekommen. »Das war ein großes Hallihallo«, erzählt der Baron von seiner Geburt, als könnte er sich daran erinnern. Deren Umstände werden nämlich bis heute weitererzählt. »Mein Vater Karl hatte sieben Schwestern und einen Bruder, der Pfarrer geworden ist. Also war mein Vater der einzige Mann in der Familie, der für Nachwuchs und männliche Bianchi-Nachfolger sorgen konnte. Und die ersten beiden Kinder, die er bekam, waren Mädels, die Marie Therese und die Verena. Aber dann kam endlich ich, ein Bianchi-Bub.« Der Großvater war auch gerade in Grado und ob des Neugeborenen überglücklich. So sehr, dass er Order gab, die beiden auf den Türmen der Villa Spiaggia und der Villa Mare wehenden rot-gelben Bianchi-Fahnen einzuholen und blaue zu hissen. »Es gab aber keine blauen Fahnen. Also wurden zwei große hellblaue Handtücher gefunden und an den Fahnenmasten hochgezogen, um der Stadt Grado zu zeigen: Es ist endlich ein männlicher Bianchi geboren.«
In den folgenden Jahren bedeutete Grado für die Kinder vor allem eines: Urlaub und Spaß. Die Familie zog zunächst wieder nach Rubbia, weil sich das dauerhafte Zusammenleben mit den beiden Tanten doch ein wenig mühsam gestaltete. Man kam nur für die Saison von Mai bis September nach Grado – und die Kinder kamen in den Schulferien. »Da waren wir am Strand und haben viele Blödsinne gemacht«, erzählt Federico Bianchi – ja, mit einem Augenzwinkern sagt er tatsächlich »viele Blödsinne«. Als Kind nannten sie ihn »Osso«, den Knochen. »Weil ich so dünn war. Der einzige Mensch auf Erden, der keinen Schatten warf.« Als Halbwüchsige, mit 15, machten Fri und sein jüngerer Bruder schon auf Papagalli: »Da haben wir in der Liste der Buchungen für die Ville nachgeschaut, wer heute und morgen kommt und ob da Gleichaltrige und Mädchen dabei sind. Und die mussten wir schließlich ein bisschen unterhalten …«. Die Bianchi-Buben waren die Hausherren am Strand. Sie beeindruckten die weiblichen Gäste auch mit ihren Wasserski-Künsten. »Bei der ersten Mole war die Wasserskischule ›Remo und Martin‹ aus Zell am See. In der Früh und am Abend durften wir immer gratis fahren, weil wir ein paar Kunststücke konnten und damit Gäste anlockten«, erinnert sich »Fri« Bianchi an die unbeschwerte Zeit der 1960er-Jahre.
In dieser Zeit wuchs Federico Bianchi aber auch langsam in die Hotel-Führung hinein, half seinem Vater, der die Villen nach und nach renovieren ließ. Duschen am Gang wurden gebaut, Fließwasser in alle Zimmer eingeleitet, die Zimmer wurden zusammengelegt und vergrößert, aus einst mehr als 80 wurden 48. Aber die Zusammenarbeit mit der noch regierenden Tante Mitzi (Tante Lo war schon 1962 gestorben) war »nicht immer leicht«, wie Marie Therese Rossetti erzählt, »mein Vater wollte mehr Modernes hineinbringen in die Villen, da gab es einige Konflikte.« Gleichwohl: Die Villen waren voll. Die Gäste kamen nach wie vor hauptsächlich aus Österreich und aus Deutschland, alte Bekannte und Familien schon in zweiter und dritter Generation – das Altösterreichische der Villen zog unverändert an. »Von den Spannocchis bis zu den Attems, alle waren sie da. Alle waren irgendwie miteinander und auch mit uns verwandt, meine Großmutter war ja eine Attems. Aber alles waren zahlende Gäste«, sagt Federico Bianchi. Die Nummer eins unter den Gästen war Gräfin Emma Czernin, »die war immer zwei Monate da. Tante Emu haben wir sie genannt, eine rührende Frau. Sie nahm Halbpension, damit es billiger war, und trank nur Wasser. Die hatte einen Klappsessel mit und ist am Strand von einem Sonnenschirm zum nächsten gegangen, wo sie Bekannte hatte, und hat gequatscht. Als sie starb, wollte sie auf ihrer Parte stehen haben: ›Sie lebte für Grado.‹« Auch Johanna Bianchi, eine Cousine des Vaters, kam immer für einen Monat in die Villen. Sie wollte immer – Eigenheit fast aller Bianchi-Gäste – dasselbe Zimmer und denselben Strandplatz. Und sie kam immer mit ihrem alten Volkswagen: »Das war ein Wunder-auto. Einmal haben wir 45 Gepäckstücke gezählt«.