So wird die Rede sein von den beiden Schwestern, die, stets in Schwarz gekleidet, vom Beginn bis weit in die zweite Hälfte des vergangenen Jahrhunderts mit dem Rad durch Grado und Umgebung fuhren, um ihre Ville Bianchi und das Seebad voranzubringen. Es wird die Rede sein von Emma Scheid natürlich, die, wie die Schwestern, tagein, tagaus für ihr Hotel und ihr Grado kämpfte. Es wird erzählt vom handgeschriebenen Kochbuch der Hanni Schöffmann – ja, auch die Küche spielt eine entscheidende Rolle in der Geschichte Grados –, das wie ein wertvoller Schatz geheim gehalten wird bis heute. Sein manchmal üppiger (die Zutaten!) und immer geschmackvoller Inhalt eröffnete und eröffnet sich bis heute nur den Gästen der Villa Reale, deren aus Kärnten eingeheiratete Seele die Schöffmann war. Von der großen Maria Callas wird die Rede sein, die in den späten 1960er-Jahren mit dem ebenso großen Pier Paolo Pasolini in Grado einen Film drehte und dem Seebad einen neuen Aufschwung zum »St. Tropez der Adria« bescherte – die beiden waren nur zwei von zahllosen prominenten Gästen, die seit Sigmund Freud, Arthur Schnitzler und Otto Wagner dem Adria-Ort gesellschaftlichen Glanz verliehen. Von einer Baroness ist zu lesen, die die Familiengeschichte der Bianchi hütet und die von keinem Geringeren als vom Teenager Niki Lauda auf den Straßen in und um Grado Autofahren gelernt haben will – wer kann das schon von sich sagen? Zeitungszaren und internationale Fußballer – weil auch von Männern die Rede sein wird –, Wirtschaftsbosse, Filmschaffende, Schauspieler und Literaten, sie alle haben in Grado ihr zweites Zuhause gefunden.
Und weil das alles nicht ohne Küche ging und geht, oder anders: Weil auch die Liebe zur Sommerfrische und zum Urlaubsort durch den Magen geht, wird auch von gutem Essen die Rede sein. In Grado wurde zu Zeiten des Österreichischen Küstenlandes vorwiegend österreichisch, ungarisch und böhmisch gekocht. Der saftige Schweinsbraten und das Pilsner Bier waren nebst den Süßspeisen aus der Monarchie die kulinarischen Höhepunkte eines Tages in der Badeanstalt. Viel später kamen die Pasta und der Riso dazu, der Fisch, wie er an der Küste bereitet wird, die Muscheln und andere Meeresfrüchte. Heute wird dagegen vor allem in den Villen die italienische Küche serviert, nach der sich der Italien-Reisende so sehnt. Jene Küche also, die er in angeblich »typischen« italienischen Restaurants so selten bekommt, es sei denn, er sucht lange und vermeidet die ausgetretenen touristischen Pfade: Unaufgeregte, beständige, wirklich italienische Gerichte, die wohlfühlen lassen und Lust machen, sie zu Hause auszuprobieren. Wenn man nur das Rezept hätte! Ein paar dieser Rezepte werden wir vorstellen – denn wenn man Grado mit nach Hause nehmen kann, bleibt das Zuhause-Gefühl wach, das man an Grado so schätzt. Auch wenn man gerade nicht dort ist.
Da sind wir dann doch wieder am Anfang: Das vorliegende Buch liefert keine chronologische Darstellung der Villen, ihrer Bewohner oder ihrer Gäste. Es ist keine lexikalische Auflistung und kein Who’s who in Grado. Und der kulinarische Teil ist kein Register der Gradeser Küche. Das Buch versucht nur eines: In einer bunten Aneinanderreihung von Geschichten und Geschichte, von Erinnerungen und Anekdoten, von Erzählungen und verstaubten Dokumenten aus längst vergessenen Kartons und Kisten ein Bild zu malen. Dieses Bild soll nicht in Nostalgie ertrinken. Es will ein Gefühl und einen Zustand vermitteln oder wachrufen, je nachdem: Die Magie Grados, die den Besucher einfängt. Eine Magie, die den Gast spätestens beim zweiten Mal nicht mehr Besucher, sondern Heimkehrer sein lässt. Nach zu Hause, in sein Grado.
2Die Tür, durch die kein Kaiser ging
Flanieren in die Vergangenheit: Über den »vollsten Beifall« der Gäste aus dem Hause Habsburg, verruchte Begegnungen am dunklen Strand und eine kleine Schwindelei.
Am Viale Europa Unita, auf dem Weg zum Hafen, liegt die libreria moderna. Es ist eine Buch-, Zeitungs- und Schreibwarenhandlung wie aus dem italienischen Bilderbuch – vor 50 Jahren. Mit den aktuellen Gazetten im Zeitungsständer davor, mit Postkarten, diversen Heftchen, ein paar Büchern, Zuckerln, Schreibgeräten und sonst noch allerlei. Vor dem Geschäft stehen drei Männer mittleren Alters mit der neuesten Gazetta dello sport. Auch wenn sie die Fußballergebnisse vom Vortag längst kennen, ist die Spielkritik im blassrosa Blatt Thema einer ausführlichen Diskussion. »L’arbitro è stato un disastro …«, grollt einer. Der Schiedsrichter, wer sonst, ist halt wirklich überall schuld.
Vor der Gelateria Antoniazzi lehnen zwei Gradeserinnen an ihren Fahrrädern. Die Einkäufe aus dem supermercato baumeln am Lenker. Die Frauen schlecken Eis, das sie sich auf dem Heimweg noch genehmigen. Sie plaudern über mindestens die Welt, so lange dauert das Gespräch. »Ciao Ornella«, ruft eine hinüber auf die andere Straßenseite, und schon sind die Damen zu dritt. Die Gelateria am Viale Dante Alighieri ist übrigens eine der besten der Stadt.
Der breite Viale Dante Alighieri nach Osten hinaus, dorthin, wo vor eineinhalb Jahrhunderten nur ein Weg durch den Sumpf war, rechts das Meer und links die Lagune, ist unbestritten die Flaniermeile der Stadt. Nach weniger als 200 Metern auf dem Viale tut sich ein weiter Platz auf: die Giardini Marchesan mit Brunnen und Wasserspielen und viel Grün. Von rechts ist das Meer zu hören und geradeaus am Ende des Platzes bietet sich ein einmaliger Blick: fünf lichtgelbe Villen, wie hingemalt. Zwei Stockwerke hoch, mit Balkonen und weißen Geländern und blaugrünen Fensterläden. Sie könnten, jede für sich, genauso im Cottage der Wiener Nobelbezirke Hietzing und Währing oder im Salzkammergut stehen. Links gegenüber eine dreistöckige Villa, die auch nicht von dieser Welt scheint, mit früher roten, jetzt wieder blauen Markisen und einer verspielten Terrasse. Sie wirkt auf den ersten Blick moderner und ist doch mehr als 100 Jahre alt. Und im Hintergrund, am Viale linkerhand erahnbar, eine weitere Villa, im schönsten Jugendstil, streng und leicht zugleich, mit roten Backsteinen im zweiten Stock, mit Terrassen und Bögen und Türmchen, efeubewachsen. Und ginge man dort ums Eck, stieße man gleich auf eine weitere beeindruckende Villa. Sie sind die Ville Bianchi, die Villa Erica, die Villa Reale und dahinter die Villa Bernt. Sie sind das Herzstück der Gradeser Geschichte, in die wir hineinflanieren.
Die Monarchie ging, die Villen blieben: Werbung für die »Baron Bianchischen Villen«, schon unter italienischer »Herrschaft«
Die Ville Bianchi heute – so etwas wie das Wahrzeichen Grados am langen Strand
Vor der Villa Erica sitzt an einem der kleinen Tischchen Gabriella und wartet schon. Die Nachmittagssonne taucht die Ville Bianchi gegenüber in ein strahlendes Gelb. Gabriella ist eine Institution im Dreieck der Villen. In den Ville Bianchi hat sie ein halbes Leben gearbeitet, viele Jahre davon als Chefin des Personals in der Küche und im Restaurant. Die Stammgäste haben sie geschätzt und geliebt – Gabriella wusste über die Jahre, wo die Gäste am liebsten saßen, was die Lieblingsspeise der Kinder war (nicht schwer: Spaghetti) und welcher der Lieblingswein der Eltern. Als die Besitzer wechselten, war das nicht mehr ihre Welt. Sie fand Unterschlupf in der Villa Reale schräg gegenüber. Auch dort gibt es Stammgäste seit ewig, und auch dort wird eine umsichtige Hand stets gebraucht. »Das war immer schon so in den Villen. Die Leute kommen einmal, und dann kommen sie wieder und immer wieder. Oder sie waren als Kinder schon da. Und das Schönste für sie ist, wenn jedes Mal alles so ist, wie sie es kennen und gewohnt sind – und dazu gehört auch das Personal.«
Das war vor 100 und mehr Jahren, als die Villen die ersten Besucher empfingen, nicht anders. Außer dass sich so mancher Gast – sicher ist sicher – sein Personal gleich selbst mitgebracht hat. »Zu Kaisers Zeiten reiste zumindest der Adel mit dem halben Hofstaat, wenigstens aber mit Köchin und Kindermädchen.« Nicht selten belegten Gäste samt Entourage dann über Wochen ein ganzes Stockwerk. Apropos