Die Ville Bianchi 1905 – wo rechts nur Lagune ist, entstanden später die Villen Erica, Alga und Reale.
Sigmund Freud zum Beispiel gab ein Zeugnis von dieser Mühsal. Der Psychoanalytiker war ein für seine Zeit weit gereister Mann, oft hatte es ihn nach Rom oder in die Toskana verschlagen. Eine Osterreise, die er im April 1898 mit seinem Bruder Alexander nach Görz und Grado unternahm, legte er indes »grantig zurück«. Nicht, weil die Fahrt vom Wiener Südbahnhof nach Görz von Freitagabend bis Samstagvormittag zehn Uhr dauerte, sondern weil es ab dort mühsam wurde. In einem Brief an seinen Freund Wilhelm Fließ schrieb Freud: »Am Sonntag hieß es früh aufstehen, um mit der friaulischen Lokalbahn bis nahe Aquileja zu kommen. Die ehemalige Großstadt ist ein kleiner Misthaufen«, klagte Freud, aber wenigstens die Museen verfügten über einen unerschöpflichen Reichtum. »Um zehn Uhr wurde von einem merkwürdigen Motor ein kleiner Dampfer in den Kanal von Aquileja geschleppt, der gerade niedriges Wasser hatte. Der Motor hatte einen Strick um den Leib und rauchte während seiner Tätigkeit Pfeife. Den Dampfer hätte ich gerne den Kindern mitgebracht, er war aber als einzige Weltverbindung nach dem Kurort Grado nicht zu entbehren. Eine zweieinhalbstündige (!) Fahrt durch die ödesten Lagunen brachte uns nach Grado, wo wir endlich wieder am Strande der Adria Muscheln und Seeigel sammeln konnten.« Zweieinhalb Stunden ging es dann am selben April-Abend auch wieder zurück. Nicht einmal ein kluger Kopf wie Freud wird geahnt haben, dass man die Strecke keine 50 Jahre später mit dem Automobil in gerade einmal zehn Minuten zurücklegen würde.
Aber zurück zum Kaiser in Görz: 100 Fischer in ihrer traditionellen Kleidung machten Franz Joseph nebst den Stadtoberen ihre Aufwartung. Sie war, so wird erzählt, von Erfolg gekrönt, auch wenn der genaue Betrag der kaiserlichen Zuwendung in den Annalen nicht festgehalten ist. Dass der Kaiser milde und großzügig gestimmt war, hat ja vielleicht auch mit den Damen im Lesezimmer der Ville Bianchi zu tun. Beziehungsweise mit den Vorfahren der beiden Schwestern Fabrizii: »Meine Großmutter«, erzählt eine von ihnen, »hat dem Kaiser damals in Görz einen Blumenstrauß überreichen dürfen – mein Urgroßvater war Landespräsident von Krain. So kam sie zu dieser Ehre.«
4Alpenfloh und Butterstizzi
Zwei Schwestern machen die Villen des Baron Bianchi zum Sommerziel für Adel und Bürgertum. Ein Stammhalter wird mit blauen Handtüchern gefeiert. Und in einen alten VW passen 45 Koffer.
Sie stehen überall. In Vitrinen entlang der Gänge, auf Tischchen, im Büro. Sie sind auf Bildern zu sehen und auf Kalendern, und jede erzählt eine kleine Geschichte. 722 sind es inzwischen in der herrschaftlichen Wohnung am Viale Miramar in Triest, gleich neben dem alten Bahnhof, und es werden laufend mehr: Mäuse. Aus Stoff und aus Porzellan, Miniaturen aus Keramik und Silber, kitschige und hübsche, die kleinste keine zwei Millimeter groß, die wertvollste ein paar Hundert Euro schwer.
Jeder Mensch sammelt irgendetwas, heißt es. Die Contessa Marie Therese di Rossetti sammelt Mäuse. Seit sie in die Schule ging. Damals kam sie eines Tages mit einer kleinen Schmuckmaus am Revers in die Klasse. Die Lehrerin sprang auf einen Sessel und kreischte: »Tu die Maus da weg.« Die kleine Marie Therese tat sie weg – und beschloss fortan, Mäuse zu sammeln. Selbstbestimmt und ein starker Charakter, das war sie damals schon.
Die Contessa sammelt auch alte Fotos, Briefe, Dokumente. Historika ihrer Familie, der Bianchi. Akribisch und in Kartonboxen geordnet, in einem alten Schrank verwahrt. Mehr als ein Jahrtausend reichen die Belege der adeligen Dynastie aus Mailand zurück. Dass es diesen Schatz an Dokumenten und Aufzeichnungen gibt, ist ein Glück. Ohne ihn und ohne die Erinnerung seiner Besitzerin wäre ein entscheidender Teil der Geschichte Grados verloren. Wäre die Geschichte der Ville Bianchi nicht zu erzählen. Das sind jene fünf Villen, die seit ihrer Errichtung zum Wahrzeichen Grados geworden sind – schon allein deshalb, weil kein Haus malerischer und fotogener am langen Sandstrand liegt als sie. Die Contessa – ihr vollständiger Name ist Marie Therese di Rossetti de Scander geb. Bianchi – ist die Urenkelin des Baron Leonard Bianchi, des Gründers der Pension Ville Bianchi. Ohne ihn wäre die Geschichte des Seebades Grado wohl anders verlaufen.
Die Rossetti hat einen guten Teil ihrer Jugend in den Ville Bianchi verbracht. Mit ihrem Vater Karl, der das Haus jahrzehntelang führte, und ihrer Mutter. Meist verlebte die blutjunge Baronin Bianchi (Contessa wurde sie erst später durch Heirat) herrliche Sommer bei ihren Eltern – und bei ihren beiden Großtanten Louise und Marie-Fernande Bianchi. Die beiden Schwestern waren damals, in den 1950er- und 60er-Jahren, schon hochbetagt, aber in den Villen immer noch bestimmend und höchst aktiv. Sie hatten das Haus von der Jahrhundertwende an geleitet und waren als rührige Chefinnen selbst zu einem Wahrzeichen Grados geworden. »Lo und Mitzi wurden sie genannt, die beiden haben nur für dieses Hotel gelebt«, erzählt die Bianchi-Nachfahrin mit unverhohlener Bewunderung und Liebe über die beiden Schwestern, die das Erbe des Barons Leonard Bianchi zu beispielloser Blüte führten. »Die Prinzessin von Bayern und ihre Schwester, die Großherzogin von Sachsen, haben mit Kindern und Gefolge hier gewohnt. Die Gräfin Fugger war da und die Kattus, die Sektdynastie aus Wien, 20 Jahre lang, die haben immer Hummer bestellt. Der Graf Benz mit Frau und Kindern kam, die Jane Tilden mit Tochter, die Schwarzenbergs, der Kanzler Schuschnigg mit Frau und Sohn, die Tochter vom Stauffenberg …« – Die Contessa kann gar nicht mehr aufhören, in Erinnerungen und in alten Listen zu kramen. Oder in altem, zusammengebundenen Karton zu blättern. Denn die Schwestern Bianchi führten ihre Gästelisten und ihre Notizen teils auf alten zerlegten Waschpulver-Schachteln. Darauf waren dann besondere Wünsche und Eigenheiten der Gäste notiert, auf die man das nächste Mal Rücksicht nehmen wollte. »Der Graf Thun kam 1931 mit Frau, drei Kindern und Nurse, und da hat meine Tante über sie geschrieben: ›Sie kam süß mit Luftbussis, wenn sie was wollte, ohne zu zahlen‹.«
Heute sind die Villen längst in anderen Händen, die Bianchi haben sie vor Jahrzehnten verkauft. Und man merkt der Contessa an, dass sie ein bisschen davon träumt, wie’s gewesen wäre, wenn sie später selbst die Geschicke des Hauses gelenkt hätte – so wie seinerzeit Lo und Mitzi.
Deren Vater, Baron Leonard Bianchi, hat jedenfalls Pflöcke eingeschlagen in Grado. Buchstäblich. Denn dort, wo er seine Villen unmittelbar nach der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert hinsetzte, waren Sumpf und Wasser und ein bisschen Wiese entlang des Strandes. Für den Bau der Villen musste erst Land aufgeschüttet und danach die Fundamente für die fünf Häuser viele Meter tief in den Boden getrieben werden.
Dass die Bianchi eine Hoteliers-Familie wurden, war ihnen nicht in die Wiege gelegt. Dafür aber eine außergewöhnliche Lebensgeschichte. In Mailand lagen die Bianchi mit der Familie der – wie könnte es anders sein! – Neri im Zwist und wurden vor vielen Jahrhunderten an den Comer See vertrieben. Dort brachten die Bianchi einen Erfinder hervor (»Der hat ein Gerät zum Abzapfen von Muttermilch erfunden und ein Barometer«, berichtet die Contessa aus den Familienaufzeichnungen) sowie so manchen Soldaten und Feldherrn. General Friedrich Bianchi zum Beispiel, Sohn des Barometermachers, schlug als Oberbefehlshaber der gegen Neapel anrückenden österreichischen Streitkräfte 1815 das Heer Murats, der als Schwager Napoleons die Königskrone in Neapel verteidigen sollte – für diesen Sieg erhielt der wackere Bianchi den Adelstitel eines Barons. Er lehnte mehrere Güter als Belohnung ab, erhielt dafür einen