Nein, sie hielt ihn nicht für einen Volltrottel. Im Gegenteil. Sie glaubte, den Grund für seine Vergesslichkeit zu kennen. Ihre Begegnung brachte ihn genauso durcheinander wie sie. Und das machte sie sicher, keinen Draufgänger vor sich zu haben, der jeden Abend eine andere Frau einlud.
»Schlag ein Restaurant vor«, sagte er. »Ich kenne mich hier nicht so gut aus.«
»Die Brauereistube«, fiel ihr auf Anhieb ein. »Weißt du, wo die ist?«
»Ortsauswärts in Richtung Titisee.«
»Genau.« Noch einmal wagte sie, ihm in die Augen zu sehen. »Ich freue mich auch.«
Ein letzter tiefer Blick, ein Lächeln – und sie traten auseinander. Er hob die Hand.
»Bis heute Abend sieben Uhr im Biergarten der Brauereistube.«
»Bis heute Abend.« Sie winkte zurück.
In diesem Moment war sie sicher, dass nichts auf der Welt sie von dieser Verabredung abhalten würde.
Auf dem Weg zum Kindergarten versuchte Amelie, wieder einen klaren Kopf zu bekommen.
Auf was hatte sie sich eingelassen? Noch nie hatte sie sich mit einem Mann zum Essen verabredet, mit dem sie nur ein paar Worte gewechselt hatte. Und wie sollte sie sich überhaupt frei machen?
Während sie im Auto darauf wartete, dass Kim und Tim aus dem Kindergarten kamen, neigte sie immer mehr dazu, das Treffen abzublasen. Aber wie? Sie hatte nicht einmal Torstens Handynummer und wusste weder, wo er wohnte, noch, was er hier machte.
»Amelie!«
Eine fröhliche Kinderstimme riss sie aus ihren Überlegungen heraus.
»Amelie!« Nach Kim rief auch Tim schon von Weitem.
Beim Anblick der blonden Lockenköpfe floss ein Gefühl von Wärme durch die junge Frau. Die beiden Jungen liefen auf ihren Wagen zu, wobei Kim ihn wie meistens als Erster erreichte. Die Wangen der Kinder leuchteten, ihre Augen strahlten.
»Schau mal, was wir für dich gemacht haben.«
Kim riss die Autotür auf und hielt ihr eine kleine rote Schale entgegen. »Wir haben heute getöpfert«, erzählte er ihr aufgeregt.
»Und ich habe dir eine blaue Schale gemacht«, fügte Tim hinzu, während er diese vorsichtig auf den Beifahrersitz legte.
Amelie lief das Herz vor Liebe über. Wieder einmal erfasste sie eine hilflose Wut darüber, dass Britta ihre Kinder verlassen hatte. Wie konnte sie nur!
»Wie schön die sind!«, bewunderte sie die beiden Geschenke.
»In meine kannst du deine Ohrringe legen«, schlug der praktisch veranlagte Kim vor.
»Und in meine Süßigkeiten«, meinte Tim, der diesen weniger widerstehen konnte als sein Bruder.
Sie lachte die beiden an. »Ich werde bestimmt eine gute Verwendung für beide finden«, versicherte sie. »Jetzt steigt erst mal ein.«
Die Fünfjährigen kletterten in ihre Kindersitze, und sie fuhr los, während die Brüder miteinander wetteiferten, ihr die Neuigkeiten des heutigen Vormittags zu erzählen.
Mit schlechtem Gewissen gestand sie sich ein, gar nicht richtig bei der Sache zu sein, was Kim und Tim jedoch nicht zu bemerken schienen. Sie plapperten ohne Punkt und Komma durcheinander. Während der Fahrt zum Hotel änderte sie mehrmals ihre Meinung, bis sie schließlich beschloss, ihren Vetter zu bitten, an diesem Abend einmal selbst seine Söhne ins Bett zu bringen. Das würde auch den Kindern guttun.
»Ich bin heute Abend bei der Gemeinderatssitzung«, eröffnete Jonas seiner Kusine am frühen Nachmittag, als sie ihn in seinem Büro aufsuchte. »Tut mir leid, aber kannst du die Verabredung nicht verschieben?«
Amelie biss sich auf die Lippe, während sie die Zwillinge durchs Fenster betrachtete, die in ihrem Planschbecken herumtobten. Jonas hatte es ihnen nach der Trennung von Britta gekauft.
Er hatte gar nicht nachgefragt, mit wem sie verabredet war. Wahrscheinlich ging er davon aus, sie würde sich wieder einmal nach langer Zeit mit einer Bekannten treffen.
Sie sah ihn an, zwang ihn, ihren Blick zu erwidern, der wie aus weiter Ferne kommend auf ihr lag.
»Nein, kann ich nicht«, erwiderte sie knapp.
Ihr energischer Unterton ließ ihn aufhorchen. Sein Augenausdruck klärte sich.
»Tja …« Hilflosigkeit breitete sich auf seinem blassen Gesicht aus. »Ich muss bei dieser Sitzung unbedingt anwesend sein. Wir stimmen heute Abend über das Kinderhilfsprojekt ab, das Frau Brunner ins Leben gerufen hat.«
Die Frau des Landarztes gehörte ebenfalls zu den Gemeinderatsmitgliedern und vertrat das soziale Ressort. Bei einer solchen Abstimmung zählte jede Stimme, dessen war sich Amelie bewusst. Und während sich wieder der Gedanke in ihren Kopf schlich, die Verabredung fallen zu lassen, sagte Jonas: »Frag doch einfach Anna, das Lehrmädchen. Sie versteht sich mit Kim und Tim gut. Die Kinder kennen sie. Statt im Restaurant zu helfen, soll sie bei den Buben babysitten.«
»Ja, das ist eine gute Idee«, erwiderte sie.
Obwohl sie Jonas für diesen Vorschlag dankbar war, machte sich trotzdem ein gewisser Unmut in ihr breit, als ihr Vetter sich daraufhin wieder den Unterlagen auf seinem Schreibtisch widmete. Er hatte es immer schon als selbstverständlich empfunden, dass sie sich nicht nur um den Haushalt und ums Kochen kümmerte, sondern auch um die Erziehung seiner Kinder. Nachdem sie nach ihrer Lehre bei ihm die Stelle der Hauswirtschafterin angenommen hatte, war sie ziemlich schnell in die Rolle der Zweitmutter gerutscht – und glücklich dabei gewesen. Doch in diesem Moment fragte sie sich zum ersten Mal, ob Jonas überhaupt daran dachte, dass sie ein Recht auf ein eigenes Leben hatte, auf ein Leben fernab seiner Familie und seines Hotels.
»Sag mal, denkst du eigentlich auch mal daran, dass ich irgendwann mal mein eigenes Leben führen möchte?«, kam die Frage da auch schon über ihre Lippen.
Jonas’´ Hände, die gerade einen Stapel Papiere ordneten, hielten in der Bewegung inne. Mit verstörtem Blick sah er zu ihr hoch.
»Wie meinst du das?«
»Nun …«
Was sollte sie antworten? Sie hatte ja selbst noch nicht darüber nachgedacht, wie ein solches Leben aussehen könnte. Jonas und die Kinder waren bisher ihre Familie gewesen.
Ihr Vetter stand auf, trat vor sie und umfasste ihre Oberarme so fest, als würde er sich an ihnen festhalten wollen.
»Bitte, lass mich jetzt nicht im Stich. Ich brauche dich, die Jungs brauchen dich. Sie lieben dich.« Er wandte sich ab und stützte sich auf den Schreibtisch. Sie sah, wie bleich er wurde.
»Ist dir nicht gut?«, fragte sie erschrocken, während sie ihn behutsam in den Schreibtischsessel zurückdrückte. »Jonas …« Eindringlich sah sie ihn an. »Du musst dich untersuchen lassen. Irgendetwas stimmt doch nicht mit dir. Schon seit Längerem.«
Er setzte sich aufrecht hin. »Blödsinn. Ich bin nur überarbeitet, die Sache mit Britta, die sich immer noch nicht gemeldet hat, und wenn du dann auch noch andeutest, du würdest uns verlassen wollen …« Er lächelte sie hilflos an. »Da kann einem schon mal übel werden.«
Sie lächelte ebenfalls, genauso matt und hilflos.
»Ich will euch doch nicht verlassen«, beruhigte sie ihn. »Vergiss einfach, was ich gerade gesagt habe«, fuhr sie mit festerer Stimme fort. Sie klopfte ihm auf die Schulter. »Ich sehe mal nach den Jungs draußen, bevor sie den Garten überschwemmen …«
»Ich sage Anna Bescheid«, antwortete ihr Vetter. »Um wie viel Uhr soll sie denn zum Haus rüberkommen?«
»Um halb sieben.«
»Ich fahre um sechs, weil ich noch vorher zum Schreiner muss, der in einem der Zimmer etwas reparieren soll.«
Die besagte Stunde