»Moment einmal, Matthias«, sagte sie, während sie sich gerade hinsetzte. »Amelie ist eine junge Frau, die ein Recht auf ein eigenes Leben hat. Zuerst hatte sie offiziell in Jonas’´ Haushalt die Stelle der Hauswirtschafterin angenommen. Dann rutschte sie so ganz nebenbei in die Rolle der Ersatzmutter, zuweilen in die der Sekretärin und zukünftig soll sie auch noch Jonas’ Krankenschwester sein?«
Ihr Mann begann zu lächeln. Sie wusste nur zu gut, warum. Und da sagte er auch schon in seiner liebevollen Art: »Meine kleine Frauenrechtlerin …«
»Quatsch. Du weißt genau, dass ich alles andere bin als eine Emanze. Aber Amelie ist eine schöne, intelligente Frau. Sie hat etwas anderes verdient, als zeit ihres Lebens nur für andere da zu sein.«
»Es gehören immer zwei Menschen dazu«, erwiderte ihr Mann. »Amelie hat ein ausgeprägtes Verantwortungsgefühl und Jonas ihre Hilfe angeboten. Dass er diese annimmt, weil sie für ihn erleichternd und bequem ist, kann man auch verstehen.«
Er blickte wieder hoch zum Himmel. Der Bussard war verschwunden. Wahrscheinlich hatte er Beute gefunden und stillte gerade seinen Hunger.
»Bis morgen wollen wir erst einmal die Ruhe bewahren«, sagte er entschlossen. »Dann sehen wir weiter.«
»Kann ich dich wirklich mit Kim und Tim allein lassen?«, fragte Amelie.
Jonas nickte. »Ich lese den beiden etwas vor und lege mich dann auch hin. Wenn du vielleicht vorher nur den Nachtportier anrufen könntest, ob er wirklich heute kommt.«
»Klar, mache ich.« Sie lächelte ihn beruhigend an. »Falls nicht, haben wir ja noch die Aushilfe, die ich für den Nachtdienst einteilen werde. Das Hotel müssen wir deshalb nicht schließen.«
Jonas warf ihr einen dankbaren Blick zu. »Wenn ich dich nicht hätte«, murmelte er mit mattem Lächeln.
Sie lächelte aufmunternd zurück. »Morgen sieht die Welt schon anders aus. Ich habe volles Vertrauen in Dr. Brunner. Wenn er nur den geringsten Verdacht auf eine gefährliche oder gar tödlich endende Krankheit hätte, würde er dich heute noch umgehend zu einem Spezialisten geschickt haben.«
Ihre Worte schienen Jonas nicht ganz zu überzeugen. Er seufzte nur und stand auf. »Ich gehe zu den Kindern. Die toben mir dort oben ein bisschen zu sehr herum. Nicht, dass die Decke noch einstürzt.«
An diesem Abend vermisste Amelie auf dem Weg zu Torsten die Leichtigkeit in sich, die sie bisher auf dem Weg zu ihren Verabredungen beflügelt hatte. Sie machte sich um Jonas Gedanken. Wenn zu der Trennung von Britta nun auch noch eine ernsthafte Krankheit hinzukommen würde … Kaum auszudenken, wie er das alles verkraften sollte. Das Hotel brauchte eine feste Hand. Wer würde in dieser Zeit für ihn einspringen können? Sie selbst, die mit dem Hotelbetrieb seit Jahren so vertraut war?
Inzwischen war sie an dem Wanderparkplatz angekommen. Als sie Torsten an seinem Wagen gelehnt stehen sah, floss ihr Herz vor Liebe und Sehnsucht über. Sie flog in seine Arme.
»Wie geht’s deinem Vetter?«, erkundigte sich Torsten, nachdem sie sich innig geküsst hatten. »Was hat Dr. Brunner gesagt?«
Amelie erzählte ihm kurz, was sie wusste.
»Sein gegenwärtiger Zustand hat auch etwas Gutes«, schloss sie ihren Bericht ab. »Da Jonas zurzeit nicht so viel arbeiten kann, sucht er wieder die Nähe von Kim und Tim, was allen dreien guttut.«
»Uns auch«, erwiderte Torsten zwinkernd.
Sie zog die Brauen zusammen. »Wie meinst du das? Ich würde dich doch auch treffen, wenn Jonas gesund wäre und abends im Hotel zu tun hätte?«
»Wirklich?« Forschend sah er sie an.
»Natürlich«, bestätigte sie ihm. »Dann müsste Anna öfter auf die Zwillinge aufpassen. Außerdem hätte ich Jonas dann schon längst erzählt, dass ich dich kennengelernt habe. Nur in dieser Situation…«
»Eben.«
Verdutzt sah sie an.
»Mein Liebling.« Lächelnd zog er sie an seine Brust. »Dein weiches Herz und dein Verantwortungsgefühl deinen Mitmenschen gegenüber ist auch ein Grund dafür, dass ich dich liebe.«
»Augenblick einmal.« Mit beiden Händen hielt sie ihn auf Abstand. »Es stimmt, dass ich mich Jonas verpflichtet fühle. Er ist bis jetzt meine Familie gewesen. Was aber nicht heißt, dass ich nicht zukünftig eine eigene Familie haben will. Einen Mann und zwei, drei Kinder. Den Mann muss ich mir allerdings noch suchen«, fügte sie verschmitzt lächelnd hinzu.
»Wie bitte?« Mit gespielter Empörung schnappte Torsten sie, hob sie hoch, wirbelte sie einmal durch die Luft und stellte sie wieder auf den Boden. »Ich sage dir was, mein Schatz: Wir beide genießen jetzt erst einmal unser Picknick. Danach wirst du sicher sein, diesen Mann gefunden zu haben. Das verspreche ich dir.«
Er küsste sie so innig und leidenschaftlich, dass sie danach mit schelmischem Blick meinte: »Ich glaube, das Picknick können wir ausfallen lassen.«
Torsten trug den schweren Picknickkorb und eine Tragetasche, Amelie die Decke. Hand in Hand schlugen sie den schmalen Weg ein, der sich am Berghang auf halber Höhe entlangschlängelte. Tannennadeln übersäten den Boden, die ihre Schritte schluckten. Die Luft roch würzig nach Harz, Erde und Rinde. In der Ferne stellten sich die Berge hintereinander auf, immer blauer, immer lichter. Es wehte ein lauer Wind. Friedlich, wie unberührt, lagen einzelne Höfe und Häuser im goldenen Licht der untergehenden Sonne. An einer Kreuzung bogen die beiden links in den Wald ein, in dem die letzten Strahlen in verwunschene Winkel huschten. Bizarre Äste, die aussahen wie Fabeltiere, und mit Flechten bewachsene Stämme ließen sie glauben, in einem Zauberwald zu sein.
Lange Zeit sprachen sie kein Wort miteinander. Die Steinache plätscherte behäbig an ihnen vorbei. Sie hatte keine Eile. Sie würde auch in hundert Jahren noch durch ihr schmales Bett fließen.
Amelie und Torsten begegneten niemandem. Nur ein paar Eichhörnchen begleiteten sie hoch oben in den Fichten. Den beiden jungen Menschen war zumute, als würde es nur noch sie beide geben.
Schließlich lichtete sich der Wald, und sie standen an einem Weiher. Hier herrschte eine Stille, als würde sich die Welt auf sich selbst besinnen. Amelie beobachtete die winzigen Ringe, die die Flöhe in die dunkle Wasseroberfläche malten, hörten dem leisen Glucksen der Wellen zu. Sie konnte nicht anders. Sie schob ihre Hand in die von Torsten, der ihre fest umschloss. Ein paar Augenblicke lang standen die beiden einfach nur so da und spürten im Gleichklang ihrer Herzen dem wunderbaren Gefühl nach, das sich in ihrem Innern ausbreitete.
»Meinst du, dass wir hier den richtigen Ort gefunden haben?«, fragte Torsten leise, während er Amelie in die Goldaugen sah.
Sie konnte nur nicken.
Wo konnte es einen schöneren Platz auf der Welt geben? Einen Ort, der mehr Idylle, mehr Geborgenheit ausstrahlte als dieser kleine Weiher inmitten des Tannengrundes? Ihr kam es so vor, als hätte sie gerade das Paradies betreten.
Sie breiteten die Decke am Fuße eines Findlings aus, direkt am Ufer. Der Spaziergang hatte sie hungrig gemacht. Torsten öffnete die Tragetasche, nahm ein Windlicht nach dem anderen heraus und stellte sie in Form eines Herzens auf.
Amelie sah ihm dabei mit großen Augen zu.
»Du bist ja verrückt«, flüsterte sie von Rührung überwältigt.
Solch eine Mühe hatte sich noch kein Mann für sie gemacht!
»Das ist ein besonderer Ort, ein besonderer Abend, und du bist eine besondere Frau«, antwortete er mit zärtlichem Blick. »Dafür braucht es auch eine besondere Kulisse.«
Er nahm eine Flasche Rotwein und zwei Gläser aus dem Picknickkorb, schenkte zuerst Amelie, dann sich ein.
»Auf uns.« Er hob sein Glas.
»Auf uns.«
Die Zeit verging wie im Flug. Amelie und Torsten ließen es sich schmecken, tranken und unterhielten sich.
»Ich