»Amelie?«
Sie drehte sich um. Jonas hielt sich am Türrahmen fest.
»Ja?«
Wie blass er aussah! Unter seinen ernst blickenden Augen lagen Schatten.
»Ich fahre jetzt zu Dr. Brunner.«
Sie legte das Geschirrtuch auf die Spüle. Mehr brauchte ihr Vetter nicht zu sagen. Wenn er freiwillig diesen Schritt tat, wusste sie, wie es um ihn stand.
»Die Sprechstunde ist gleich zu Ende«, gab sie dennoch zu bedenken. »Willst du nicht lieber nach dem Mittagessen fahren?«
Jonas schüttelte nur den Kopf.
Während sie ihm durchs Küchenfenster nachsah, wie er sichtlich erschöpft zu seinem Kombi ging, legte sich eine eiskalte Hand um ihr Herz. Sie konnte das Gefühl, das sie in diesem Augenblick beschlich, noch nicht benennen.
War es Angst? Angst vor der Zukunft? Vor Jonas’´ Zukunft und vor ihrer eigenen?
»Eigentlich ist die Sprechstunde schon vorbei«, sagte Schwester Gertrud mit strengem Blick, als Jonas Wiesler den Praxisvorraum betrat. »Dr. Brunner behandelt gerade seinen letzten Patienten für heute Vormittag.«
»Ich weiß«, murmelte der Hotelier.
Sein Aussehen verriet der erfahrenen Sprechstundenhilfe mehr als ein ausführlicher Krankenbericht. Und wieder einmal rührte sich ihr weiches Herz. Der arme Jonas … Sie kannte ihn von Kindheit an. Sie war mit seiner Mutter befreundet. Jonas war immer ein ruhiger lieber Junge gewesen. Die Trennung von seiner Frau musste ihm hart zugesetzt haben, so, wie er jetzt auf sie wirkte.
»Setz dich mal auf den Stuhl«, sagte sie mit beruhigendem Lächeln. »Ich frage den Doktor.«
Natürlich wusste sie genau, dass ihr Chef ihn noch behandeln würde, auch wenn er dann wieder einmal zu spät zum Mittagessen kommen würde.
Matthias Brunner ging Jonas entgegen. Er hatte Mühe, sein Entsetzen über dessen Anblick zu verbergen. Das helle Leinenjackett schlabberte um seinen Oberkörper.
»Schön, dich zu sehen«, begrüßte er den jungen Mann. »Nimm Platz.« Er zeigte auf den Besuchersessel vor seinem Schreibtisch.
In diesem Fall ersparte er sich die Frage, wie es Jonas ging. Dass dieser seine Hilfe brauchte, stand ihm auf dem schmalen blassen Gesicht geschrieben.
Der junge Mann zögerte nicht lange, sondern kam sofort auf sein Problem zu sprechen.
»Ich befürchte, es ist nicht nur der berufliche und private Stress, dass ich mich mit jedem Tag schlechter fühle.« Ein Hilfe suchender Blick, dann fuhr er fort: »Ich erkenne mich nicht mehr wieder. Irgendetwas schlummert da in meinem Körper. Und das kann nichts Gutes sein.«
»Schildere mir deine Symptome«, forderte Matthias ihn auf.
»Na ja, ich fühle mich ständig müde, trotz Ihres Vitamin-B-Präparates, das ich täglich einnehme. Aber das könnte ja auch noch von einer Überarbeitung kommen. Wir haben schließlich Hochsaison. Wenn da nicht noch andere Beschwerden wären …«
»Welche?« Er legte die Arme auf den Schreibtisch und beugte sich vor.
»Seit einiger Zeit tun mir die Gelenke weh. Die Fußgelenke. Zuerst dachte ich an Muskelkater, aber die Schmerzen gehen nicht mehr weg. Oft habe ich so ein merkwürdiges Druckgefühl in der Brust. Appetitlosigkeit und manchmal …«
»Erbrechen?«
Jonas nickte mit gesenktem Kopf.
Das hörte sich wahrlich nicht gut an. Wie er schon vermutet hatte, schien in Jonas eine andere Krankheit zu schlummern, die nicht Stress hieß.
Er stand auf.
»Mach mal bitte den Oberkörper frei und lege dich dort auf die Liege.«
In den folgenden Minuten war es still im Sprechzimmer. Nur das Gezwitscher der Vögel in den Obstbäumen auf der Wiese drang durch das geöffnete Fenster in den Raum. Während ihres Schweigens untersuchte er seinen Patienten gründlich.
»Du hast auch Fieber«, murmelte er.
»Vielleicht habe ich ja eine verschleppte Grippe, die nicht zum Ausbruch kommt. Dabei hat man ja auch Gliederschmerzen.« Jonas’´ Stimme klang wieder hoffnungsvoller.
Matthias schwieg dazu. Denn ihm kam ein anderer Verdacht, den er jedoch noch nicht äußern wollte. Nicht, bevor er weitere Anhaltspunkte gesammelt hatte.
Sorgfältig horchte er die Lunge ab. Beim Betasten des Brustkorbes fielen ihm Knoten auf. Geschwollene Lymphknoten, diagnostizierte er im Stillen.
»Ich nehme dir Blut ab. Für ein großes Blutbild. Außerdem möchte ich dich morgen früh zum Röntgen deiner Lunge sehen.«
Jonas schnellte auf der Liege hoch. Mit entsetztem Blick sah er ihn an.
»Meiner Lunge? Habe ich etwas Schlimmes?«
Er lächelte ihn beruhigend an.
»Die Untersuchungen dienen erst mal nur dazu, die Ursache deiner Beschwerden festzustellen beziehungsweise bestimmte Ursachen auszuschließen. Heute kann ich noch gar nichts sagen.«
Nun wich auch noch der letzte Blutstropfen aus dem Gesicht des jungen Hoteliers.
»Sie glauben doch nicht etwa, dass ich …«
»Es gibt noch andere Krankheiten als Krebs«, schnitt er ihm energisch das Wort ab. »Die Menschen denken immer zuerst an so was. Jetzt mach dich nicht verrückt. Morgen wissen wir mehr. Bis dahin hat Schwester Gertrud das Blutbild erstellt, und die Röntgenaufnahme gibt weitere Aufklärung. Mach dir erst einmal keine Sorge.«
Der Landarzt wusste nur zu genau, wie wenig diese Worte seinen Patienten halfen, wenn er sie ohne konkrete Diagnose nach Hause gehen lassen musste. Deshalb hatte er Jonas für den nächsten Tag auch den frühestens Termin gegeben, der möglich war. Die Ungewissheit über ihren gesundheitlichen Zustand fraß an der Kraft seiner Patienten genauso wie körperliche Schmerzen. Oder vielleicht noch viel mehr. Gegen Schmerzen gab es Medizin. Gegen das Kreisen der Gedanken im Kopf nicht.
»Hast du keinen Hunger?«, fragte Ulrike Brunner erstaunt, als sie ihren Mann auf dem Teller herumpicken sah.
Die beiden aßen wieder auf der Terrasse des Schwarzwaldhauses, wie stets bei schönem Wetter. Sie bot einen unverstellten traumhaft schönen Blick auf Ruhweiler, das von tannenbewaldeten Höhen beschützt in der Flusssenke am Fuß des Praxishügels lag. Unterhalb der Veranda breitete sich ein gelber Teppich aus Löwenzahnblüten aus, der bis zum Ufer der Steinache reichte.
Ulrike bemerkte, dass ihr Mann ihr gar nicht zugehört hatte. Er sah einem Bussard nach, der hoch am Himmel seine Kreise zog. Ein Raubvogel auf der Suche nach Beute.
»Matthias …«, rief sie ihn leise an.
»Verzeih, mein Schatz«, sagte ihr Mann hastig.
Sie legte das Besteck auf den Teller. »Was ist passiert? Sag es mir.«
»Mein letzter Patient heute Vormittag war Jonas.«
Neugierig rückte sie auf die Sesselkante vor. »Und? Wie geht es ihm? Wie verkraften die Kinder die Situation?«
»Jonas war nicht wegen seines privaten Kummers bei mir, sondern wegen seiner Beschwerden.«
Sie seufzte. »Klar, dass sich Brittas Fahnenflucht nicht gerade stressmindernd auf ihn ausübt.«
Ihr Mann sah sie ernst an. »Es ist nicht nur seine Überarbeitung, die für die Symptome verantwortlich ist. Ich befürchte, dass er Sarkoidose hat.«
Ungläubig hielt sie dem besorgten Blick ihres Mannes stand. Als gelernte Krankenschwester wusste sie diesen Fachbegriff richtig zu deuten. Nun war ihr auch schlagartig der Appetit vergangen.
»Oje«, sagte sie leise seufzend.
»Morgen