»Das Essen ist gleich fertig«, sagte Ulrike Brunner, als ihr Mann die Terrasse betrat.
Nachdem er Lump gebührend begrüßt hatte, setzte sich der Landarzt an den gedeckten Tisch.
»Aus der Küche riecht’s so gut«, sagte er mit träumerischer Miene.
»Heute gibt es Käsespätzle mit Salat«, verkündete seine Frau.
»Genau die hätte ich mir auch gewünscht.«
Ulrike trug auf und setzte sich ihrem Mann gegenüber.
»Und?« Erwartungsvoll sah sie ihn an.
Er wusste genau, was sie wissen wollte.
»Ich habe heute Vormittag mit meinem Kollegen aus Karlsruhe telefoniert sowie mit dem Labor. Tatsächlich ist der Fehler dem Labor unterlaufen. Ich habe mit dem Laborleiter gesprochen. Sie haben kurz vor meinem Anruf den Fehler selbst festgestellt.«
»Zu wem gehört die schlimme Diagnose?«
Matthias schwieg einen Moment. Dann schüttelte er lächelnd den Kopf.
»Es gibt Dinge, die glaubt man nicht.«
»Mein Schatz, das haben wir schon häufig in unserem langen Leben festgestellt«, erwiderte Ulrike trocken. »Was ist nun mit der Diagnose, die nicht Sophies Diagnose war?«
»Eines der Zählgeräte in diesem Labor war defekt. Sie haben es heute Vormittag bemerkt. Sophie ist nicht das einzige Opfer. Eine solche Falschauswertung hat noch andere Patienten getroffen, die jedoch inzwischen alle Entwarnung bekommen haben.«
Da atmete seine Frau aus. Mit einem seligen Lächeln auf dem schönen Mund schaute sie hinunter ins Tal, wo schwarzweiße Kühe auf sattgrünen Wiesen weideten. Die Sonne schien, die Vögel trällerten in den Obstbäumen.
Sie wusste auch, dass nicht alle lebensbedrohlichen Diagnosen so einfach widerrufen werden konnten. Aber an diesem warmen Sommertag gab es ein paar glückliche Menschen mehr auf Erden – und das bedeutete schon viel.
»Was hältst du davon, wenn ich dich heute Abend ins Wiesler einlade!«, hörte sie ihren Mann in ihre Gedanken sagen.
»Sozusagen zur Feier des Tages.«
Sie lächelte ihn an. »Dagegen hätte ich nichts einzuwenden.« Dann fiel ihr etwas ein. »Da du gerade die Wieslers erwähnst … Hast du’s auch schon gehört?«
Matthias Brunner erwiderte ihren ernsten Blick. »Man munkelt so einiges.«
»Wenn das stimmen sollte …«
»Das würde Jonas Wiesler und den Zwillingen den Boden unter den Füßen wegziehen«, beendete Matthias ihren Satz.
Seine Frau seufzte. »In jedem Gerücht steckt ein Körnchen Wahrheit …«
Dr. Matthias Brunner drückte den Knopf der Gegensprechanlage.
»Wer ist der Nächste?«, fragte er Schwester Gertrud, seine altgediente Sprechstundenhilfe.
»Amelie Wagner. Sie möchte ein Rezept für Jonas holen.«
Ein paar Sekunden später erschien eine junge Frau in der Sprechzimmertür. Matthias Brunner kannte sie seit ihrer Kindheit.
»Guten Tag, Herr Doktor«, sagte sie mit sanftem Lächeln. »Mein Vetter bat mich …«
»Grüß dich, Amelie«, unterbrach er sie herzlich. »Ich weiß. Dieses Mal stelle ich Jonas noch ein Rezept aus, aber beim nächsten Mal muss er selbst kommen. Und zwar zu einer umfangreichen Untersuchung.«
»Wahrscheinlich ist’s nur der Stress. Zurzeit ist sein Hotel komplett ausgebucht.«
»Ist seine Frau inzwischen zurück?« Der Landarzt nahm wieder hinter seinem Schreibtisch Platz und griff nach dem Rezeptblock.
»Seit gestern.« Auf seine einladende Geste hin setzte sich Amelie auf den Besucherstuhl. »Aber morgen fährt Britta schon wieder. Nach Zürich.«
Dr. Brunner schwieg. Er dachte an Jonas Wiesler und die beiden kleinen Kinder. So hatte sich der attraktive Hotelier seine Ehe wahrscheinlich auch nicht vorgestellt.
»Hier.« Er nickte Amelie aufmunternd zu. Dabei schob er das Rezept über den Schreibtisch. »Liebe Grüße an Jonas. Und richte ihm bitte aus, dass ich die Ursache für seinen Zustand wissen will. Ich halte nichts davon, Symptome mit Tabletten zu bekämpfen.«
Amelie trat aus der Praxistür in die Mittagssonne hinaus. Dort blieb sie ein paar Augenblicke stehen und atmete die würzige Luft tief ein. Sie roch nach Harz und dem süßem Duft der Blumen, die von den Fensterbänken herunterrankten.
Das alte Schwarzwaldhaus, in dessen Nebentrakt die Landarztpraxis und eine Miniklinik untergebracht waren, lag auf einer Anhöhe umgeben von blühenden Wiesen. Hinter ihm erhoben sich bewaldete Höhen und über ihm spannte sich ein endlos blauer Himmel. Die einmalige Lage der Praxis mochte auch dazu beitragen, dass Patienten aus der ganzen Umgebung hierhinkamen. Diese Idylle nahm ihnen die Angst vor dem Arztbesuch, den die meisten mit einer klinischen Atmosphäre verbanden, in der der Mensch nur ein medizinischer Fall war. Auch an diesem Vormittag gab es keinen freien Parkplatz mehr.
»Fahren Sie raus?«, hörte Amelie da eine tiefe, angenehm klingende Stimme rufen.
Sie schaute sich um und blickte mitten in ein dunkles Augenpaar, aus dem tausend Funken sprühten. Das Lächeln des Mannes besaß etwas Ansteckendes, zog sie geradezu in seinen Bann.
Sie blinzelte verwirrt, nickte dann und lächelte zurück. »Ja, Sie haben Glück«, antwortete sie, wobei ihr das Herz leicht wurde.
Der Dunkelhaarige, dessen Züge einen durchsetzungsstarken und offenen Charakter verrieten, zeigte auf die vielen Autos.
»Ob ich hier überhaupt noch einen Termin bekomme?«, fragte er mit zweifelnder Miene.
»Wenn Sie viel Zeit mitbringen. Dr. Brunner hat noch nie einen Patienten nach Hause geschickt.«
Da schnippte der Autofahrer mit den Fingern. Sein Gesicht hellte sich wieder auf. »Das hört sich an, als würde sich das Warten lohnen.«
»Ganz bestimmt«, versicherte sie ihm.
Sie hob die Hand zum Abschied, stieg in ihren Wagen und setzte zurück. Als sie den Wiesenweg zur Bundesstraße hinauffuhr, warf sie einen Blick in den Rückspiegel.
Der Geländewagen mit dem Frankfurter Kennzeichen parkte geschickt in die kleine Lücke ein, die sie hinterlassen hatte.
Ein netter Typ, dachte sie bei sich. Ein sehr netter sogar.
Welch eine Frau, sagte sich zur gleichen Zeit Torsten Richter. Honigfarbenes Haar, Goldaugen, eine Schönheit auch ohne Schminke. Ihre sanfte Stimme, das Lächeln voller Wärme auf den weich geschwungenen Lippen. Und wie sie da auf der Treppe gestanden hatte in ihrem weißen Kleid, angestrahlt von der Sonne wie eine Lichtgestalt! Ihr Anblick hatte ihn ein paar Herzschläge lang seine beißenden Schmerzen vergessen lassen.
Pfeifend stieß er den Atem aus.
So einer Frau war er noch nie begegnet, obwohl er viel in der Welt herumkam. Sie schien von hier zu sein. Und mit Sicherheit bereits vergeben. Wahrscheinlich lebte sie mit Ehepartner und Kindern glücklich in einem der hübschen Schwarzwaldhäuser unten in Ruhweiler.
Über diese Gedanken schüttelte er energisch den Kopf.
Ein Mann mit seinem Beruf sollte diese Überlegungen gar nicht erst haben. Wie lange würde er noch hierbleiben? Vierzehn Tage, drei Wochen? Dann ging’s weiter. Wohin, wusste er noch nicht. Noch konnte er nirgendwo sesshaft werden. Und eine Frau wie diese war für eine Affäre viel zu schade. Zumal sie sich auf eine solche bestimmt auch nicht einlassen würde. Kein verführerischer Blick, kein gurrendes Lachen, stattdessen